Luftangriffe auf Krankenhäuser – Humanitäres Völkerrecht ohne Wirkung?

Streitkräfte und Strategien (NDR Info), 23.04.2016

NDR Radio

Mitte Februar trafen vier Raketen ein Krankenhaus in der nordsyrischen Provinz Idlib. Wer dafür verantwortlich ist, ist bis heute unklar. Vermutet wird, dass es russische Kampfjets waren, die das Krankenhaus angegriffen hatten – aber bewiesen ist das nicht. Dafür sind die Folgen bekannt: Laut „Ärzte ohne Grenzen“ standen plötzlich 40.000 Menschen ohne medizinische Versorgung da. Massimilino Rebaudengo, Chef von „Ärzte ohne Grenzen“ in der Türkei und Syrien, sprach von einem gezielten Angriff.

O-Ton Rebaudengo (overvoice)

„Heute Morgen wurde in der Provinz Idlib in Syrien ein Krankenhaus mit vier Raketen in wenigen Minuten mehrmals angegriffen. Das Gebäude wurde zerstört, sieben Menschen wurden getötet und acht sind vermisst.“

Der Angriff ist leider nicht der einzige seiner Art. Auch die deutsche Hilfsorganisation „medico international“ registriert mit Sorge die zahlreichen Angriffe auf medizinische Einrichtungen seit dem Beginn des Krieges. Dadurch werde gezielt versucht, jedes Leben unmöglich zu machen, sagte Martin Glasenapp, Syrien-Referent bei medico.

O-Ton Glasenapp

„Es hat immer wieder auch Angriffe auf Militärkrankenhäuser gegeben, es hat auch in den letzten Jahren Morde an Ärzten gegeben, die für die syrische Armee arbeiten. Es hat Übergriffe gegeben, natürlich. Das ist auch alles vorgekommen. Und es sicherlich auch vorgekommen, dass in den medizinischen Einrichtungen auf oppositioneller Seite natürlich auch Kämpfer behandelt worden sind. Das ist unvermeidlich. Trotzdem glaube ich, dass es nicht akzeptabel ist, dass medizinische Einrichtungen bombardiert werden.“

In Syrien registrierte „Ärzte ohne Grenzen“ allein im vergangenen Jahr 94 Angriffe auf 63 Krankenhäuser. Doch nicht nur dort, auch in anderen Kriegsgebieten geraten immer wieder Helfer ins Visier der kriegführenden Parteien. In Afghanistan etwa wurden im Oktober 42 Menschen bei einem US-Luftangriff auf ein Krankenhaus in Kundus getötet. Beunruhigt ist die Hilfsorganisation auch über die Lage im Jemen: In zwölf Monaten zählte sie Raketenangriffe auf drei Kliniken. Das ist politisch besonders brisant, denn die Angriffe dürften auf das Konto der von Saudi-Arabien geführten Koalition gehen. Und das Königreich hat bei seinem Krieg im Jemen die Unterstützung des Westens und damit auch von Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates.

Gemäß dem vierten Genfer Abkommen, dem Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, sind Angriffe auf Krankenhäuser laut Artikel 18 auf keinen Fall zulässig. Doch das scheint immer mehr in Vergessenheit zu geraten. „Ärzte ohne Grenzen“ fordern deshalb eine neue UN-Resolution, in der Angriffe auf Krankenhäuser verurteilt werden. Gegenwärtig sind es fünf nichtständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die an einer solchen Resolution arbeiten: Ägypten, Japan, Spanien, Neuseeland und Uruguay. Es gehe darum, eine klare Botschaft an alle Kriegsparteien zu senden, dass das internationale Recht beachtet und medizinisches Personal geschützt werden müsse, hieß es zur Begründung. Neue rechtliche Wege werden dadurch also nicht beschritten. Es soll vielmehr die vorhandene Rechtslage bekräftigt werden.

Es ist nicht der erste derartige Vorstoß bei den Vereinten Nationen. So hat der Sicherheitsrat im Jahr 2011 mit der Resolution 1998 die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen autorisiert, Angriffe auf Krankenhäuser und die Angreifer im Jahresbericht des Generalsekretärs zu registrieren. 2014 hat das UN-Generalsekretariat dann eine Richtlinie zur Umsetzung dieser Resolution herausgebracht. Die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte, Leila Zerrougui:

O-Ton Zerrougui (overvoice)

„Die Veröffentlichung dieser Richtlinien ist der erste Schritt in einem Programm des Trainings und der technischen Begleitung in allen Agenturen und Organisationen, die heute hier sind. Das ist ein anspruchsvolles Projekt und es wird Zeit brauchen, bis es vor Ort seine Wirkung entfaltet, wo es dringend gebraucht wird.“

Trotzdem gehören Angriffe auf Krankenhäuser immer noch zur Realität des Krieges. Meistens bekennt sich aber niemand zu diesen Attacken. Eine Ausnahme sind die USA im Fall von Kundus. US-Präsident Barack Obama hat sich bei den „Ärzten ohne Grenzen“, die das Krankenhaus betrieben haben, für den Angriff entschuldigt. In einer Untersuchung kam das US-Militär zu dem Ergebnis, dass menschliches Versagen die Ursache für den Angriff war. Gegen die beteiligten Soldaten wurden Disziplinarstrafen verhängt. Im März traf US-General John Nicholson in Kundus Vertreter von „Ärzte ohne Grenzen“ und Angehörige der Opfer. In einer großen Zeremonie entschuldigte er sich für den Angriff:

O-Ton Nicholson (overvoiced)

„Als Befehlshaber wollte ich persönlich nach Kundus kommen und vor den Familien und den Bürgern von Kundus stehen, um mich zu entschuldigen für die Ereignisse, die zur Zerstörung des Krankenhauses und zum Tod von Personal, Patienten und Familienmitgliedern führten. Ich trauere mit Ihnen um den Verlust und das Leiden. Und demütig und voller Respekt bitte ich Sie um Vergebung.“

Doch nicht immer bekennen sich Angreifer so klar schuldig. Vor allem dann nicht, wenn mehrere Konfliktparteien als Täter in Frage kommen, wie dies in Syrien der Fall ist. So werden zwar die syrische Luftwaffe und die russischen Flugzeuge, die das Assad-Regime unterstützen, der Angriffe verdächtigt – klare Beweise fehlen aber. Martin Glasenapp von „medico international“:

O-Ton Glasenapp

„Wir wissen das aus der Gegend Daraa, wo wir auch eine Krankenstation als medico unterstützen. Dort hat es Luftangriffe auf medizinische Einrichtungen gegeben. Und da die Rebellen über keinerlei Flugzeuge verfügen, können das nur syrische Flugzeuge oder russische Flugzeuge gewesen sein.“

Doch Russland hat derartige Vorwürfe immer zurückgewiesen. Und so ist ein Propagandakrieg ausgebrochen: Die USA beschuldigten Russland schon Ende vergangenen Jahres, in Syrien nicht den Islamischen Staat zu bekämpfen, sondern Oppositionelle, Zivilisten und eben Krankenhäuser zu bombardieren. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sprach von „eklatanten Verstößen gegen internationales Recht“. Aber die Vereinten Nationen hüteten sich davor, eine Konfliktpartei namentlich zu beschuldigen. UN-Sprecher Rupert Colville:

O-Ton Colville (overvoice):

„Es ist nicht ganz klar, ob diese Einrichtungen gezielt angegriffen werden. Die große Anzahl der Zwischenfälle wirft aber die Frage auf, ob die Konfliktparteien in Syrien in der Lage sind, den Schutz von medizinischen Einrichtungen und Personal gemäß dem internationalen Recht zu respektieren.“

So weisen sich alle Seiten gegenseitig die Schuld zu. Stichhaltige Beweise sind in Kriegsgebieten eben schwer zu ermitteln, wenn gleichzeitig noch gekämpft wird. Immerhin: Angriffe auf Krankenhäuser gelten heute nach wie vor als Verbrechen. Keine Konfliktpartei bekennt sich zu derartigen Attacken. Allerdings finden sie trotzdem immer wieder statt. Vielleicht erhöht die angestrebte UN-Resolution den moralischen Druck auf alle Kriegsbeteiligten, sich wieder an die Genfer Abkommen zu halten.


Autor: Dirk Eckert

Quelle: http://www.ndr.de/info/sendungen/streitkraefte_und_strategien/streitkraeftesendemanuskript576.pdf

MP3: http://media.ndr.de/download/podcasts/podcast2998/AU-20160422-1218-4700.mp3