Vorreiter der Militarisierung

"Für mich ist die Alternative ganz klar: Druck von unten, eine möglichst starke Oppositionsbewegung gegen eine Militarisierung der EU, gegen die Herausbildung einer neuen 'Weltmacht EU' - selbstverständlich auch gegen eine 'Weltmacht USA'." - Tobias Pflüger, Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e. V. in Tübingen im Interview zu EU-Militarisierung, Neutralität und Friedensbewegung.

Volksstimme, 09.01.2003, Nr. 1-2/2003

Interview Volksstimme

Frage: Nachdem die Türkei ihren Widerstand gegen eine europäische Eingreiftruppe aufgegeben hat, will die EU zunächst die Einsätze in Mazedonien und möglicherweise auch in Bosnien übernehmen. Sind langfristig auch kriegerische Einsätze zu erwarten?

Pflüger: Von der Struktur der Truppe her: ja. Die Zusammensetzung dieser EU-Interventionstruppe – die heißt ja in den Papieren der EU tatsächlich “Interventionstruppe” – lässt darauf schließen, dass sie für beides geeignet sein soll, sowohl für Stationierungs- oder Besatzungseinsätze als auch für Interventions- oder Kriegseinsätze in einem Interventionsradius von 4000 Kilometern rund um Brüssel, wie die EU selbst beschlossen hat.

Frage: Warum braucht die EU überhaupt einen militärischen Arm?

Pflüger: Die EU will ihre politische Interessen offenbar nicht mehr nur mit diplomatischen Mitteln durchsetzen, sondern auch mit militärischen. Seit dem Maastricht-Vertrag ist klar, dass die EU so etwas wie ein Januskopf – “Militär- und Wirtschaftsmacht” – ist.

Bis zum 11. September haben die verschiedenen westlichen Regierungen vor allem mit Menschenrechten argumentiert, um Krieg als Mittel der Politik zu legitimieren. Ab dem 11. September ist es der “Kampf gegen den Terrorismus”. Dahinter verbirgt sich natürlich die Durchsetzung von Hegemonialinteressen – siehe Irak-Krieg – und der Zugang zu Ressourcen, wie es in den verschiedenen Strategiepapieren der NATO oder auch der deutschen Bundeswehr nachzulesen ist.

Frage: Ist mit der neuen EU-Truppe der Kern für eine europäische Armee gelegt?

Pflüger: Diese EU-Truppe ist ja keine stehende Truppe, sondern wird ad-hoc zusammengestellt. Aber es gibt auch stehende Korps: das Eurokorps mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen und luxemburgischen Truppen, das Eurofor mit Truppen aus Spanien, Frankreich, Italien und Portugal. Das Euromarfor ist aus Truppen der gleichen Länder zusammengesetzt. Außerdem ist da die europäische Luftfahrtgruppe mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen, italienischen und britischen Verbänden und die in Deutschland befindliche Multinationale Division unter britischer Führung mit deutschen, belgischen und niederländischen Truppen. Schließlich gibt es noch das in Afghanistan zum Einsatz kommende Deutsch-niederländische Korps, das dort jetzt beim ISAF-Einsatz die Lead-Nation-Funktion übernimmt.

Zusammen mit der EU-Interventionstruppe ist das schon so etwas wie eine EU-Armee. Wobei das ganz geschickt gemacht ist: Man kann nicht sagen, hier entsteht eine stehende EU-Armee. Der militärischen Nutzung kommt diese Struktur entgegen. Interventionen werden “spontan” durchgeführt, bei den darauf folgenden Stationierungs- oder Besetzungseinsätzen werden die Korps eingesetzt.

Frage: Verbergen sich hinter diesen verschiedenen Korps widerstreitende Interessen innerhalb der EU?

Pflüger: Ja und nein. Wenn man sich diese verschiedenen Truppen anschaut, ist auffällig, wer an welcher Truppe beteiligt ist. Vor allem Frankreich, aber auch insbesondere Deutschland sind fast an jeder Truppe beteiligt. Widerstreitende Interessen gibt es zwischen den drei großen in der EU – Frankreich, Großbritannien und Deutschland -, die jeweils eine Dominanz im militärischen Bereich wollen.

Frage: In der EU muss einstimmig entschieden werden, so dass auch die kleineren Staaten ein Wort mitzureden haben, also auch die Neutralen wie Österreich. Wenn die EU zu einem Militärbündnis mutiert, wäre deren Blockfreien-Status faktisch beseitigt. Ist das auch ein Grund dafür, dass die Umwandlung der EU in ein Militärbündnis nur schrittweise vorangeht?

Pflüger: Im Falle Österreichs überhaupt nicht, weil die österreichische Regierung, wenn man sich den Koalitionsvertrag der alten ÖVP-FPÖ-Regierung anschaut, eine der Vorreiterinnen ist, was die Militarisierung der EU betrifft. Als einzige Regierung in der EU hatte sie das explizit in ihren Koalitionsvertrag geschrieben.

Frage: Und bei den anderen Blockfreien: Finnland, Irland und Schweden?

Pflüger: Da spielt das durchaus eine Rolle. Zwar ist die Neutralität aller vier Staaten im Grunde genommen dahin, weil sie beim NATO-Programm “Partnership for Peace” mitmachen, Mitglied im Euro-atlantischen Partnerschaftsrat der NATO sind und auch Beobachter sind bei der nur noch auf dem Papier bestehenden Westeuropäischen Union. Trotzdem müssen alle vier Staaten darauf achten, dass sie ihre Neutralität formal behalten. Gerade die skandinavischen Länder starten ja als Neutrale immer wieder eine ganze Reihe von internationalen diplomatischen Initiativen.

In Schweden und Finnland gibt es deutlichen Widerstand gegen eine Militarisierung der EU. Bei der Abstimmung in Irland über den Nizza-Vertrag war die EU-Militarisierung ein wesentlicher Kritikpunkt der Vertragsgegner. Übrigens hat Dänemark eine Sonderregelung erreicht. Das Land nimmt nicht an den militärischen Aktivitäten der EU teil, kann aber auch nicht die anderen EU-Staaten hindern, diese Zusammenarbeit zu verstärken. Es ist also möglich, sich nicht an der Militarisierung der EU zu beteiligen.

Frage: Die USA haben die europäischen NATO-Staaten in den letzten Jahren immer wieder zu höheren Rüstungsausgaben gedrängt. Ist Washington jetzt zufrieden?

Pflüger: Ich weiß nicht, inwieweit jemals an diesem Punkt Zufriedenheit artikuliert werden wird. Beim EU-Gipfel in Kopenhagen wurde jedenfalls eine kontinuierliche Steigerung der Militärausgaben für notwendig erachtet. Ich denke, die US-Regierung wird an diesem Punkt weiter drängeln. Schließlich wollen sie, dass künftig auf der militärischen Ebene zumindest teilweise eine Arbeitsteilung stattfindet.

Frage: Wie soll die aussehen?

Pflüger: Die eine Form der Arbeitsteilung wurde in Bosnien, Kosovo oder jetzt Afghanistan praktiziert, wo die eigentliche Kriegsführung nicht unwesentlich bei den USA und begleitend noch bei Großbritannien lag. Die sogenannte Nachsorge liegt bei den anderen EU-Staaten, und dort vor allem Deutschland. Es gibt aber auch so etwas wie eine regionale Arbeitsteilung. Für die im Umfeld der EU befindlichen Konfliktherde soll künftig die EU zuständig sein.

Frage: Aus EU-Sicht scheint die erste Form der Arbeitsteilung doch praktisch. Die EU muss nicht selbst die Kriege führen, sondern schickt erst dann Soldaten, wenn die Schlacht schon geschlagen ist. Trotzdem sind viele EU-Regierungen genau damit unzufrieden …

Pflüger: … was natürlich viel damit zu tun hat, dass sie eigene Interessen im Spiel haben. In Bosnien etwa sahen sich deutsche Unternehmen benachteiligt. Im Kosovo haben sie dafür intensiv abgesahnt. Die Regierungen schauen natürlich, dass bei solchen “Nachsorgeaufträgen” – etwa beim Aufbau der Energieversorgung – die jeweiligen eigenen Unternehmen profitieren. Bei jedem Krieg ist außerdem die Frage, was das tatsächliche Ziel der Kriegsführung ist. Nur wenn man beteiligt ist, so die Argumentation der EU-Regierungen, könne man auch auf die Ziele Einfluss nehmen.

Frage: Wie verändert sich das Verhältnis zwischen EU und USA durch die neue Interventionstruppe der EU?

Pflüger: Die NATO hat auf Drängen der USA die NATO-Response-Force mit 21.000 Mann gegründet. Diese Truppe hat noch sehr viel mehr Interventionscharakter, sie ist so etwas wie ein riesiges “Kommando Spezialkräfte” für die NATO. Das Kommando Spezialkräfte ist die deutsche Elitekampftruppe.

Die Sorge der deutschen Regierung war, dass die NATO-Response-Force zu Lasten der EU-Truppe geht, und deshalb hat sie nur zugestimmt unter der Voraussetzung, dass keine Kapazitäten von der EU-Truppe abgezogen werden. De facto ist es so, dass die Kapazitäten dann zum Teil doppelt genutzt werden. Wenn dann verschiedene Anforderungen da sind, ist die Frage, für welche Truppe die jeweiligen Armeeteile gestellt werden. In diesem Bereich gibt es also durchaus Konkurrenz. Die NATO-Response-Truppe hat die EU-Truppe überholt, beide sollen 2003 einsatzfähig sein. Bei der EU-Truppe war der Vorlauf aber viel länger.

Auch bei den geplanten Kriegen ist so etwas wie eine ganz leichte Konkurrenz vorhanden. Die Motivation der deutschen Regierung für ihre “Antikriegshaltung” beim Irak-Krieg war nicht nur der Wahlkampf. Deutschland hat einfach auch andere Interessen. Ein ganz wichtiger Punkt ist dabei der Iran als ein mögliches zukünftiges Kriegsziel der USA, der ein ganz wichtiger Wirtschaftspartner Deutschlands in der Region ist. Wenn der Iran angegriffen würde, würde es niemals gemeinsame Interessen von Deutschland und den USA geben, sondern die Interessen würden ganz offen aufeinandertreffen. In Teheran sind die deutsche Firmen sehr präsent, und es besteht überhaupt kein Interesse, diese engen Beziehungen kaputt zu machen. Diese Konkurrenz wird aber derzeit diplomatisch ausgehandelt, von einer militärischen Auseinandersetzung ist das natürlich noch ewig weit entfernt.

Frage: Liegt es auch an diesen Interessensunterschieden, dass bis weit in sozialdemokratische und grüne Kreise hinein die Stärkung der EU befürwortet wird, auch als Gegengewicht zu den USA?

Pflüger: Innerhalb der Sozialdemokratie, bei den Grünen und auch, wenn auch nicht so explizit, bei einigen in den Reihen der PDS wird das Konzept, die EU als Gegenmacht zu den USA aufzubauen, durchaus forciert. Dabei gäbe es nichts idiotischeres als – sozusagen spiegelbildlich zu den USA – eine Gegenmacht aufzubauen. Das liefe nur auf ein interimperiales Wettrennen hinaus.

Frage: Was wäre stattdessen zu tun?

Pflüger: Alternativen kann man nicht bei den Regierungen suchen, weil die westlichen Regierungen sehr ähnliche Interessen haben: Sie sichern gemeinsam wirtschaftlich, aber eben auch militärisch, den Wohlstand ihrer Länder ab – auf Kosten des großen Rests der Welt. Für mich ist die Alternative ganz klar: Druck von unten, eine möglichst starke Oppositionsbewegung gegen eine Militarisierung der EU, gegen die Herausbildung einer neuen Weltmacht EU – selbstverständlich auch gegen eine Weltmacht USA. Und für die Opposition in Deutschland ist selbstverständlich besonders wichtig: keine neue Weltmacht Deutschland.

Frage: Sie waren bei den Gegenaktivitäten zum EU-Gipfel in Kopenhagen. Wie weit sind die Proteste in den verschiedenen EU-Ländern gegen eine Militärmacht Europa?

Pflüger: In Dänemark wird die Militarisierung der EU sehr stark wahrgenommen. Es gibt so etwas wie ein Zentrum-Peripherie-Phänomen innerhalb der EU: Je weiter vom Zentrum entfernt – also von Paris, Berlin, London – desto mehr ist die Kritik an der Militarisierung der EU auch eine Kritik an der EU selbst bzw. eine Ablehnung der EU. Diese EU wird sehr häufig als ein deutsches Projekt wahrgenommen, was ja, wenn man sich den militärischen Bereich anschaut, weitestgehend zutreffend ist – 18.000 von 60.000 der EU-Interventionssoldaten kommen von der Bundeswehr. Insofern wurde meine Kritik an der Militarisierung der EU in Dänemark sehr positiv aufgenommen. Logisch ist, dass in jeder Region die Kritik an der eigenen Regierung besonders artikuliert wird. Das war auch in Dänemark so, da wurde die dänische Regierung besonders kritisiert. Es ist ein wichtiger Job der jeweiligen Antikriegsbewegung, der eigenen Regierung sehr genau auf die Finger zu schauen.

Frage: Was hätte die Antikriegsbewegung in Europa zu tun?

Pflüger: Mir persönlich ist sehr wichtig, dass wir als Antikriegs-, Friedens- und globalisierungskritische Bewegung – das ist ja zunehmend eine Einheit – nicht in eine der aufgestellten Fallen laufen. Zum Beispiel: Die EU in ihrer militarisierten Form ist kein progressives Projekt, wie Sozialdemokraten und Grüne uns weiß machen wollen. Zum Glück ist das sehr Vielen innerhalb der europäischen Antikriegsbewegung klar.

Zentral ist, dass man international besser zusammenarbeitet, aber auch da gibt es ja mittlerweile hervorragende Perspektiven – etwa mit dem gemeinsamen Antikriegsaktionstag am 15. Februar in praktisch allen europäischen Hauptstädten. Das ist eine hervorragende Möglichkeit, gemeinsam zu zeigen, dass wir keinen Irak-Krieg wollen. Wir lehnen diesen Irakkrieg nicht nur deshalb ab, weil er von den USA geführt wird, sondern besonders auch, weil sich die verschiedenen europäischen Regierungen einschließlich der deutschen in unterschiedlicher Form aktiv daran beteiligen.


Autor: Dirk Eckert