philtrat, 31.10.1998, Zeitung der StudentInnenschaft der Philosophischen Fakultät der Universität Köln, nr. 25
Europäische Union (EU) Innenpolitik Internationale Politik NATO UNO - Vereinte Nationen USA philtrat Rezension
Egon Bahr, der Architekt der bundesdeutschen Ostpolitik unter Willy Brandt, ist zornig: In all den Jahren, in denen Deutschland geteilt und die Bundesrepublik kein souveräner Staat war, hätte sich eine “zum Teil vasallenhafte Haltung” breitgemacht. Die setze sich jetzt fort, “Souveränität im Denken” müsse erst wieder gelernt werden.
In seinem Büchlein Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik fordert Bahr, daß sich auch die Bundesrepublik, genau wie alle anderen Staaten, wieder auf ihre “Nationalen Interessen” besinnen müsse. Zwar hat er das Buch im Frühjahr 1998 geschrieben, und die Bundesregierung ist inzwischen wieder sozialdemokratisch geführt, doch das tut seiner “Streitschrift” keinen Abbruch. In seinen eigenen Worten: “Wie auch immer die Farbzusammensetzung zwischen rot, schwarz, gelb und grün ausfallen mag, ungeachtet der Neigungen und Fähigkeiten der daran Beteiligten, die immer eine Rolle spielen werden, sind die objektiven Interessen des Staates für die nächste Dekade zu formulieren.”
Mit dieser Grundannahme – nach dem Motto “ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch nationale Interessen” – definiert er dieselben wie folgt: Die Bundesrepublik müsse seiner Meinung nach drei Kategorien von Interessen wahrnehmen, nämlich “vitale”, “herausragende” und “wichtige”. Zu den vitalen Interessen zählt für ihn, zu verhindern, daß im Osten eine neue “Bedrohungsmacht” entstehe. Positiv gewendet hieße das, die Stabilität Gesamteuropas zu erreichen.
Die “globale Handlungsfähigkeit Europas” anzustreben, die EU zu vertiefen und zu erweitern, gehört zu den herausragenden Interessen, genauso wie die Erhaltung der NATO und die Stärkung der Vereinten Nationen. Stabilitätsbemühungen im Kaukasus und Mittelasien genauso zu unterstützen wie im Nahen Osten, wäre dann lediglich ein “wichtiges” Interesse. In diese Kategorie fällt schließlich die “Gesundung” des südlichen Afrikas und die Förderung bundesdeutscher Wirtschaftsinteressen in Südostasien.
Wer jetzt erwartet, eine genauere Erklärung oder Definition von “nationalen” Interessen zu bekommen, wird enttäuscht. Schließlich ist das Buch eine “Streitschrift”, und dazu eine ziemlich kurze. Es bleibt bei einigen Andeutungen, die Wahrnehmung von Interessen und die Ausübung von Macht sei die normalste Sache der Welt.
Und genau das müsse die Bundesrepublik auch jetzt – wieder – tun. Diesmal allerdings mit Vernunft und Verantwortungsbewußtsein. Wer wie Egon Bahr den Begriff des “nationalen Interesses” benutzt, leugnet auch nicht, daß “verantwortungsvolle” Machtpolitik im eigenen Interesse liegt.
Deutsche Machtausübung ist für Egon Bahr nur Mittel zum Zweck. In der globalisierten Welt müsse die westeuropäische Gesellschaft verteidigt werden, in der soziale Gesetze dafür sorgen sollen, daß die brutalen Gesetze des Marktes gebändigt würden. Bahr spricht von einem “Gefecht der Globalisierung”.
Demnach sieht die Welt in Egon Bahrs Augen in etwa so aus: Europa stünde vor der Entscheidung, Weltmacht zu werden. “Nur als globaler Mitspieler wird es in der Lage sein, seine gesellschaftlichen Vorstellungen zu erhalten gegenüber dem auf anderen kulturellen Vorstellungen beruhenden Weg Ostasiens wie gegenüber dem weitgehend auf rechenbare Effizienz gerichteten Streben Amerikas.”
Auf der einen Seite die USA, deren ökonomische Brutalität für die Bundesrepublik gefährlich werden kann, auf der anderen die “anderen” kulturellen Vorstellungen Ostasiens – und in der Mitte steht, sozusagen allein auf sich gestellt, die Bundesrepublik beziehungsweise Westeuropa.
Auf dem Spiel steht einiges. Denn “Deutschland ist mehr als ein Standort, der sich rechnen muß”. Egon Bahr hat auch eine Handlungsmaxime parat: “Wer nicht Objekt der Globalisierung werden will, muß globale Interessen, die über unser nahes Ausland in Ost und West hinausreichen, wahrnehmen, das heißt sehen und nutzen.”
Letztlich gehe es darum, daß das Primat der Politik erhalten bleibe und der Gewinn an Zins und Kursen, auch bekannt als Orientierung auf den Shareholder Value, nicht das Grundgesetz im globalen Dorf werde. Für den Sozialdemokraten Bahr ist die amerikanische Form des Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung eine der großen Gefahren schlechthin. Doch zum Glück gibt es – der einzige Lichtblick am Horizont – noch das neue und verantwortungsbewußte Deutschland und zornige Menschen wie Egon Bahr.
Egon Bahr: Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik, Karl Blessing Verlag, München 1998, 24,90 Mark.
Autor: Dirk Eckert