Telepolis, 29.06.2017
Europäische Union (EU) Telepolis
Von Frank-Walter Steinmeier gibt es diese Anekdote zum Brexit. Ob er sich denn, als damals amtierender deutscher Außenminister, in seinem Amt schon mal mit dem Nordirland-Konflikt beschäftigt habe, fragte ihn ein irischer Politiker. Nein, gab Steinmeier erstaunt zur Antwort. Die Botschaft war klar: Mit dem Brexit könnte auch ein Konflikt auf die Tagesordnung zurückkehren, der längst gelöst schien.
Nicht nur, dass demnächst die Grenze zwischen Irland und Nordirland zur EU-Außengrenze wird. Erschwerend kommt jetzt noch dazu, dass die britische Premierministerin Theresa May ein Abkommen mit der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) geschlossen hat, die ihre Regierung toleriert. Die DUP hat zehn Parlamentssitze und ist erzkonservativ, lehnt Homo-Ehe wie Abtreibung ab. Und sie ist in Nordirland die größte protestantische unionistische Partei. Sie ist also selbst Akteur im Nordirland-Konflikt. Von ihr ist Theresa May jetzt abhängig.
John Major meldet sich zurück
Kein geringerer als der frühere Premierminister John Major, ein Parteifreund von Theresa May, sagte[1] der BBC deshalb, er sorge sich um den Frieden in Nordirland. Major gehört zu den Architekten des Friedensschlusses. Und zu dem gehöre es, dass die Regierung in London unparteiisch bleibe, sagte er mit Blick auf das Karfreitagsabkommen von 1998. Diese Unparteilichkeit könnte noch entscheidend werden, warnte er. Der Frieden sei keine Selbstverständlichkeit. Die Gefahr bestehe, dass London nicht mehr als unparteiisch angesehen werde, wenn die britische Regierung mit einer der Konfliktparteien verbunden sei.
Auch Irlands Premierminister Enda Kenny sprach deswegen mit Theresa May. Und twitterte[2] anschließend, er habe ihr gesagt, dass das Karfreitagsabkommen auf keinen Fall beschädigt werden dürfe. Das Abkommen[3]vom 10. April 1998 ist bis heute Grundlage des Friedensprozesses in Nordirland.
Konservative Übereinstimmungen
Zwar haben die Torys die DUP nicht in ein Regierungsbündnis geholt, diese unterstützt nur die Minderheitsregierung von Theresa May. Dafür bekommt Nordirland umgerechnet 1,7 Milliarden Euro, etwa für die Infrastruktur. Eine halbe Milliarde davon war aber schon vorher zugesagt worden.
Aber die Frage ist, wie weit Mays Regierung jetzt von der DUP abhängig ist. “Die Vorstellung, Theresa May oder irgendein Tory-Politiker könnte als neutraler Vermittler auftreten, wenn sie in Westminister von DUP-Stimmen abhängig sind, ist ein Witz von sehr schlechtem Geschmack”, kommentierte[4] Daniel Finn auf der Internet-Seite der London Review of Books.
Finn verwies auf das Konservative Manifest, das sich ideologisch an den protestantischen Hardlinern orientiere. “Der ungeheure Beitrag der Sicherheitskräfte während der Unruhen soll nie vergessen werden. Wir weisen alle Versuche zurück, die Geschichte umzuschreiben und Terrorismus zu rechtfertigen oder zu legitimieren”, heißt es dort.
Diese Sichtweise – der Nordirland-Konflikt als Unruhen, die man in Griff kriegen musste – habe ideologische Sprengkraft, so Finn. Zumal mit Michael Gove jetzt wieder jemand in Mays Kabinett sitze, der im Jahr 2000 das Karfreitagsabkommen als “Kapitulation vor der Gewalt” und “Anschlag auf unsere nationale Integrität” verunglimpft habe. Daniel Finn befürchtet, dass Bürgerrechte in Großbritannien und Nordirland bedroht sind, solange das Tory-Abkommen mit der DUP hält.
Offene Grenze zu Irland
Die Neutralität der britischen Regierung ist aber nicht das einzige Problem. Denn auch der Brexit ist eine Herausforderung für den Friedensprozess in Nordirland. Denn im Karfreitagsabkommen[5] bekräftigen die Regierungen von Großbritannien und Irland, dass sie die Zusammenarbeit beider Länder ausbauen wollen – “als gute Nachbarn und als Partner in der Europäischen Union”. Es dauert wohl nicht mehr lange, bis dieser Passus von der Wirklichkeit überholt ist.
Die Frage ist jetzt, was mit der Grenze zu Irland passiert. Gegenwärtig existiert sie praktisch nicht und es gibt durchaus ökonomische Gründe, warum das so bleiben sollte: Zum Beispiel fahren[6] jeden Tag 23.000-30.000 Menschen über die Grenze zur Arbeit. Auch landwirtschaftliche Erzeugnisse werden grenzüberschreitend verkauft: Irland produziert etwa 30 Prozent der Milch, die in Nordirland konsumiert wird, und exportiert im Jahr 500.000 Schweine. Nordirland wiederum verkauft jährlich 350.000 Lämmer nach Irland. Gegenwärtig läuft der Handel für die beiden EU-Mitglieder zollfrei.
Eiertanz der DUP
In Nordirland waren deshalb 56 Prozent für den Verbleib in der EU. Die DUP vertritt hier also nicht die Mehrheit und hat sich deshalb eine sehr spezielle Sprachregelung ausgedacht[7]: Man sei für eine “frictionless border” (etwa: reibungslose Grenze). Die EU zu verlassen, bedeute nicht, Europa zu verlassen, deshalb brauche man ein Abkommen mit der EU, das zollfreien Handel ermöglicht. Also die typische Brexit-Position, die davon ausgeht, dass man die EU verlassen kann, aber alle positiven Seiten behalten kann: Wie weit das gelingt, werden die Brexit-Verhandlungen zeigen.
In Nordirland steht die DUP damit ziemlich allein. Die Social Democratic and Labour Party (SDLP) ist für den Verbleib in der EU und andernfalls für eine möglichst enge Anbindung an die EU, ebenso die Alliance Party. Und Sinn Fein, der frühere politische Arme der IRA, will keine Grenze und wirbt für einen Sonderstatus von Nordirland in der EU. Aber selbst einer ihrer protestantischen Widerparts, die Ulster Unionist Party, ist für die EU und will den Nordiren ungehinderten Zugang nach Irland sichern.
Schwierige Regierungsbildung in Nordirland
Durch das Abkommen mit Theresa May geht die DUP jedenfalls gestärkt in die Koalitionsverhandlungen in Nordirland. Dort muss die Partei mit Sinn Fein koalieren, weil laut Karfreitagsabkommen die größten Parteien beider Seiten die Regierung bilden müssen. Doch Sinn Fein hatte sich im Januar aus der Regierung zurückgezogen[8], aus Protest gegen einen politischen Skandal der DUP. Auch nach den Wahlen[9]scheiterten[10] Gespräche zwischen Sinn Fein und DUP, die geschwächt aus den Wahlen hervorging.
Dass die DUP zusätzliche Gelder für Nordirland herausgehandelt hat, begrüßt auch Sinn Fein, da das Geld ja allen zugutekommt. Parteichef Gerry Adams schrieb[11] im Guardian, zusätzliches Geld “kann helfen, den enormen Druck auf unseren Öffentlichen Dienst zu mildern”, der durch Sparmaßnahmen der letzten Jahre entstanden sei. “Das ist eine gute Sache.”
Doch bislang scheiterte[12] eine Einigung auch am Streit um ein Sprachgesetz. Sinn Fein will, dass die irische Sprache in einem eigenen Gesetz der englischen gleichgestellt wird. Bis zum 29. Juni müssen sich beide Seiten einigen. Gelingt das nicht, dann hat Nordirland-Staatsekretär James Brokenshire zwei Möglichkeiten: Entweder wird Nordirland zentral von London aus regiert. Oder die Behörden werden bis Herbst von lokalen Beamten geführt. Im Herbst könnten dann neue Koalitionsverhandlungen beginnen.
Testballon der Unionisten
All das ändert aber nichts an der problematischen Konstellation, dass die britische Regierung von der DUP abhängig ist. Einen ersten Testballon für die Regierung May gibt es bereits. Die antikatholische Orange Lodge of Portadown, zu der auch David Simpson, einer der DP-Abgeordneten, gehört, hat auf Twitter gefordert[13], ihrer jährlichen Parade zu erlauben, durch katholische Viertel zu ziehen.
Am 12. Juli feiern nordirischen Protestanten mit solchen Umzügen den Sieg des damaligen englischen und protestantischen Königs Willhelm von Oranien über den abgesetzten englischen König Jakob II., einen Katholiken, in der Schlacht am Boyne im Jahr 1690. Durch den Sieg konnte Irland zurückerobert werden. Seit 1998 darf die Parade nicht mehr durch eine katholische Gegend ziehen, nachdem dort drei katholische Kinder von Unionisten getötet worden waren.
Liberales Nordirland
Ob der Einfluss der konservativen DUP auf die britische Regierung aber überhaupt im Sinne Nordirlands ist, darf im Übrigen bezweifelt werden. Sie ist zwar die größte Partei im protestantischen Lager, aber auch nur mit 28,1 Prozent der Stimmen. Nicht nur, was die Grenze zu Irland betrifft, teilen die meisten Nordiren die Ansicht der erzkonservativen Partei nicht. So ergab eine jüngste Umfrage[14], dass 80 Prozent dafür sind, Abtreibungen etwa nach Vergewaltigungen zu erlauben.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die in Nordirland für die Legalisierung der Abtreibung wirbt, sieht sich durch die Umfrage bestätigt. Die Gesetze müssten geändert werden, damit Frauen nicht mehr für eine Abtreibung nach England fahren müssen. Dort ist der Eingriff erlaubt. Nordirland gehört aber nur zum Vereinigten Königreich. Der “Abortion Act 1967”, der Abtreibung in England legalisierte, gilt deswegen in Nordirland nicht.
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bbc.co.uk/programmes/p055skjd
[2] http://twitter.com/EndaKennyTD/status/873872392531128320
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Karfreitagsabkommen
[4] https://www.lrb.co.uk/blog/2017/06/12/daniel-finn/a-joke-in-very-poor-taste/
[5] http://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/136652/agreement.pdf
[6] http://www.bbc.com/news/election-2017-39976319
[7] http://dev.mydup.com/images/uploads/publications/DUP_Wminster_Manifesto_2017_v5.pdf
[8] http://www.bbc.co.uk/news/uk-northern-ireland-38561507
[9] http://www.heise.de/tp/features/Nordirland-Protestantische-Parteien-verlieren-nach-Brexit-Parlamentsmehrheit-3644999.html
[10] http://www.sueddeutsche.de/news/politik/regierung-sinn-fein-laesst-koalitionsgespraeche-in-nordirland-platzen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-170326-99-818722
[11] http://www.theguardian.com/commentisfree/2017/jun/27/dup-tory-deal-good-friday-agreemnt
[12] http://www.theguardian.com/uk-news/2017/jun/27/irish-language-act-hampering-northern-ireland-power-sharing-talks
[13] http://twitter.com/Portadownlol1/status/873638779910840320/photo/1
[14] http://www.theguardian.com/world/2017/jun/16/northern-ireland-strongly-backs-abortion-law-reform-survey
Autor: Dirk Eckert
Quelle: http://www.heise.de/-3758607