Telepolis, 06.10.2016
Europäische Union (EU) Internationale Politik Telepolis
Der Brexit ist beschlossene Sache, aber wann er genau kommt und was das für Großbritannien wie für die EU konkret bedeutet, das sind nach wie vor offene Fragen.
Theresa May, die britische Regierungschefin, hat nun beim Parteitag der britischen Konservativen in Birmingham ihre Karten teilweise offengelegt[1]: Ein Austrittsantrag nach Artikel 50[2] des EU-Vertrages soll demnach bis März 2017 gestellt werden. Danach verbleibt Großbritannien höchstens noch zwei Jahre in der EU. Wenn die Austrittsbedingungen dann nicht einvernehmlich geregelt sind, endet die EU-Mitgliedschaft automatisch und ohne neue Regeln.
Klarer wurde die Premierministerin auch, wie der Austritt aussehen soll: Theresa May neigt offenbar zu einem “harten Brexit”. Und das heißt: Großbritannien würde nicht im EU-Binnenmarkt verbleiben und auch nicht im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dem neben den EU-Ländern Island, Liechtenstein und Norwegen angehören. “Wir verhandeln nicht um eine Beziehung, die so ist wie das, was wir in den vergangenen 40 Jahren und länger hatten”, sagte sie ausdrücklich:
Es wird kein Norwegen-Modell werden. Und auch kein Schweiz-Modell. Es wird eine Vereinbarung zwischen einem unabhängigen, souveränen Vereinigten Königreich und der Europäischen Union.
Allerdings steht May insofern unter einem gewissen Erwartungsdruck, als 2020 die nächsten Unterhauswahlen anstehen. Will sie da im Amt bestätigt werden, muss sie den Brexit erfolgreich gemanagt haben. “Brexit bedeutet Brexit – und wir werden einen Erfolg daraus machen”, versprach sie vor ihrer Partei:
Wir werden ein vollkommen unabhängiges, souveränes Land – ein Land, das nicht länger Teil einer politischen Union ist mit supranationalen Institutionen, die nationale Parlamente und Gerichte übergehen können.
Die Marmeladen-Affäre
Die britische Presse lobte die Ankündigungen von Theresa May in höchsten Tönen als “Freiheitsmarsch” (Sun), “historische Rede” (Mail), “keine Kapitulation” (Express). Doch die Unsicherheit bleibt, was der Brexit denn nun konkret bedeutet. Symptomatisch dafür sind die Reaktionen auf einen Tweet[3], den das britische Handelsministerium nach der May-Rede absetzte.
“Frankreich braucht hochwertige, innovative britische Marmelade und Konfitüre”, twitterte das Ministerium und verwies[4] dabei auf entsprechende “Exportchancen”. Das Ministerium forderte britische Produzenten auf, sich zu melden, man vermittle dann Kontakt zu einem Nahrungsmittel-Agenten, der entsprechende Erzeugnisse in Frankreich vermarkten wolle. Per Formular können sich britische Unternehmen bewerben.
Beim Kurznachrichtendienst Twitter löste der Tweet viel Spott und Häme aus. Was “innovative” Marmelade sei, war noch eine der harmloseren Bemerkungen. “Marmelade und Konfitüre – das ist alles, worüber die Jungs und Mädchen im Ministerium nachdenken?”, fragte einer. “Wow, unsere Zukunft hängt jetzt vom Verkauf von Marmelade und Konfitüre an die Franzosen ab”, kommentierte ein anderer. “Großartiger Humor. Einmal am Tag lachen ist gut für die Seele”, so eine Nutzerin. Mit 280 Retweets und 164 Likes hatte das Handelsministerium immerhin deutlich mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich erzielt.
Großbritannien importiert EU-Gesetze
Dabei hatte May in Birmingham noch versucht, der Bevölkerung Ängste vor dem Brexit zu nehmen. Zuerst in einem Interview mit der Sunday Times und dann auf dem Parteitag der Konservativen kündigte sie ein “Großes Aufhebungsgesetz” (Great Repeal Bill) an. Vorgestellt werden soll es bei der nächsten Thronrede der Königin im Frühjahr und in Kraft treten, wenn Großbritannien die EU verlässt. Damit soll Rechtssicherheit geschaffen werden, denn mit dem Gesetz wird das geltende EU-Recht in britisches Recht übernommen. Das Parlament kann dann nach und nach entscheiden, welche aus der EU importierten Gesetze geändert oder abgeschafft werden. Theresa May:
Wir geben Unternehmen und Arbeitern maximale Sicherheit, wenn wir die Europäische Union verlassen. Für sie gelten dieselben Regeln und Gesetze nach dem Brexit wie davor. Jede Gesetzesänderung wird zum Gegenstand genauer Untersuchung und harter Parlamentsdebatten. Und lassen Sie mich klarstellen: Die bestehende Arbeitsschutzrechte werden weiter gelten – und das wird sich auch nicht ändern, solange ich Premierministerin bin.
Damit trat May Befürchtungen der Gewerkschaften[5] entgegen, wonach der Brexit die Rechte der Beschäftigten verschlechtern könnte. Bezahlter Urlaub oder die faire Behandlung von Teilzeitbeschäftigten seien in Gefahr, hatte der Trades Union Congress, der britische Gewerkschafts-Dachverband, vor der Abstimmung gewarnt.
Kurz- und langfristige Folgen des Brexit
Doch welche ökonomischen Folgen der Brexit haben wird, ist längst nicht geklärt. Vor allem der Zugang zum EU-Binnenmarkt ist für die Exportwirtschaft und die Finanzindustrie von entscheidender Bedeutung. Aber dann müsste Großbritannien auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren, denn zum EU-Binnenmarkt und auch zum Europäischen Wirtschaftsraum gehören die sogenannten vier Grundfreiheiten[6]: freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital – und Personen. Mit dem “harten Brexit” macht May deutlich, dass sie das Hauptmotivation der Brexiters ernst nimmt: den Zuzug vor allem aus Polen zu begrenzen, den das Land in den vergangenen Jahren erlebt hat.
Immerhin sind bisher, also kurzfristig, keine negativen ökonomischen Folgen durch den Brexit-Entscheid aufgetreten. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Börsen haben sich vom anfänglichen Schock erholt. Entsprechend konnte die Konservativen auf ihrem Parteitag ein Bild vom starken Großbritannien zeichnen, das für den EU-Austritt bestens gerüstet ist. Wie Finanzminister Philip Hammond auf dem Tory-Parteitag sagte[7], könne die Regierung die Verhandlungen aus einer Position der ökonomischen Stärke heraus beginnen:
Die Beschäftigungsrate steigt, die Löhne steigen. Das Haushaltsdefizit ist gering und die Einkommenssteuer wurde für 10 Millionen Menschen gesenkt.
Schottland bleibt dabei?
Aber langfristig? Ganz so problemlos sieht wohl auch die Regierung die Lage nicht, denn immerhin hat Finanzminister Hammond auf dem Tory-Parteitag das bisherige Ziel, weniger Schulden zu machen, aufgegeben. Hammond versprach auch, dass die Regierung alle Geldmittel ersetzen werde, die vor dem Vollzug des Brexit aus Brüssel zugesagt wurden.
Eine Gefahr scheint nicht mehr so groß zu sein: der Zerfall von Großbritannien durch eine Unabhängigkeitserklärung von Schottland. Jedenfalls ist es verdächtig ruhig geworden, nachdem die schottischen Unabhängigkeitsbefürworter nach dem Brexit-Entscheid getönt hatten, jetzt das damals verlorene Referendum wiederholen zu wollen.
Die Begeisterung für Europa sei einer nüchternen Bestandsaufnahme gewichen, kommentierte die FAZ (24.09.2016). Und dazu gehöre auch, dass die schottische Wirtschaft das restliche Großbritannien als Absatzmarkt brauche. Und die schottische Finanzindustrie, nach der Ölindustrie der zweitwichtigste Wirtschaftssektor, brauche die City of London.
Und die EU?
Die Europäische Union bereitet sich jedenfalls darauf vor, dass die Beziehungen mit Großbritannien von Grund auf neu geregelt werden müssen. Rechtliche Grundlage ist die Mitgliedschaft in der WTO, am Ende könnten Freihandelsverträge stehen wie mit den USA oder Kanada. Die EU hat ein Interesse daran, denn es gehen mehr Exporte vom Kontinent auf die Insel als umgekehrt. Aber das auszuhandeln kann Jahre dauern, wie die Geschichte solcher Freihandelsabkommen zeigt.
Politisch war der Brexit auf jeden Fall eine “Klatsche” für Brüssel. Konsequenzen gezogen wurden aber dort bislang keine. Wer dachte, nach dem Austritt eines großen Mitgliedslandes würde quasi automatisch der Kommissionspräsident seinen Rücktritt erklären, sah sich getäuscht. Außerdem sind die EU-Mitglieder in zentralen Fragen wie der Flüchtlingskrise derart uneinig, so dass ein gemeinsames Voranschreiten gerade unmöglich ist. Der Sondergipfel von Bratislava, der eigentlich ein Befreiungsschlag hätte werden sollen, blieb erfolglos und legte alle Meinungsverschiedenheiten offen (Reset: Die Post-EU nach dem Brexit[8]).
EU-Armee ohne Großbritannien
Und doch sind erste Veränderungen sichtbar, und zwar in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: EU-Politiker wittern nämlich nach dem Brexit-Entscheid die Chance, den Aufbau militärischer EU-Kapazitäten neben der NATO voranzutreiben, die Großbritannien immer blockiert hatte.
Die Vorlage machte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 14. September in seiner Rede[9] in Straßburg: “Europa muss mehr Härte zeigen”, sagte er. Konkret forderte er ein gemeinsames Hauptquartier, einen Europäischen Verteidigungsfonds und eine ständige strukturierte Zusammenarbeit für die Mitgliedsstaaten, die das wollen:
Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen und die europäische Art zu leben zu verteidigen.
Deutschland und Frankreich preschen vor
Und so legten Deutschland und Frankreich pünktlich zum informellen Treffen[10] den EU-Verteidigungsministern im slowakischen Bratislava eine neue Initiative[11] vor:
Nun ist die Zeit gekommen, um unsere Kooperation zu vertiefen, um die optimale Ausschöpfung des gesamten Potentials der EU Verträge zu erreichen. Unter der Prämisse der Entscheidung des Vereinten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, ist es nun unser Ziel, zu 27 weiter voranzuschreiten.
Doch solange die Briten EU-Mitglied sind, wird daraus wohl nichts, da London jede derartige Initiative bis zum Brexit blockieren will.
Oberstes Gericht gefragt
Wer den Brexit-Antrag letztlich beschließen kann, ist in Großbritannien übrigens umstritten. Die Frage ist nämlich, ob das Parlament den Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrages absegnen muss. Dort heißt es:
Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
Die Regierung May argumentiert nun, dass das Parlament mit der Entscheidung, ein Referendum abzuhalten, die Entscheidung abgegeben hat. Nachdem das Volk für den Brexit gestimmt habe, könne die Regierung jetzt den Austrittsantrag stellen. Doch das sehen nicht alle Briten so, es gibt derzeit mehrere Klagen[12] dagegen. Am Ende wird die Frage wohl vom Obersten Gericht, dem Supreme Court entschieden[13] werden müssen.
Links
[1] http://www.politicshome.com/news/uk/political-parties/conservative-party/news/79517/read-full-theresa-mays-conservative
[2] http://dejure.org/gesetze/EU/50.html
[3] http://twitter.com/tradegovuk/status/782860452325982208
[4] http://www.exportingisgreat.gov.uk/opportunities/france-opportunity-for-high-quality-innovative-british-jams-marmalades?hootPostID=d2049001234cd51bcd316cb89a9d12be
[5] http://www.theguardian.com/politics/2016/feb/25/workers-rights-are-on-the-line-in-eu-referendum-warns-tuc
[6] http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-europa/16987/vier-freiheiten
[7] http://www.politicshome.com/news/uk/economy/economic-growth/news/79538/read-philip-hammonds-full-speech-tory-party-conference
[8] http://www.heise.de/tp/artikel/49/49451/
[9] http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-16-3043_de.htm
[10] http://www.eu2016.sk/en/press-releases/bratislava-welcomes-the-defence-ministers-of-eu-member-states-for-talks-on-joint-steps-in-the-field-of-defence-policy
[11] http://augengeradeaus.net/wp-content/uploads/2016/09/20160909_DEU_FRA_EU-Verteidigung.pdf
[12] http://www.theguardian.com/politics/2016/oct/02/article-50-timescale-theresa-may-brexit
[13] http://www.heraldscotland.com/politics/14767876.Sturgeon_suggests_Brexit_will__quot_probably_quot__end_in_a_constitutional_wrangle_before_Supreme_Court_judges/
[14] http://www.heise.de/tp/ebook/ebook_26.html
Autor: Dirk Eckert
Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/49/49605/