Telepolis, 21.09.2016
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Zehn Jahre ist es her, dass Slobodan Miloševi? im Gefängnis des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag an einem Herzinfarkt verstorben ist (And Justice for None[1]). Ein Urteil gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten wurde deshalb nicht mehr gesprochen. Nicht über seine Verantwortung im Bosnienkrieg und auch nicht im Kosovokrieg, wo die Anklage Miloševi? jeweils für schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Massaker, Deportationen, Völkermord und vieles mehr verantwortlich machte.
Um so interessanter ist, was der britische Journalist John Pilger kürzlich in seinem Blog schrieb[2]: “Der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien in Den Haag hat in aller Stille den früheren serbischen Präsidenten Slobodan Miloševi? vom Vorwurf der Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges 1992-1995, einschließlich dem Massaker in Srebrenica, freigesprochen.” War Miloševi? also doch nicht der “Schlächter des Balkans”[3], wie ihn wohl zuerst die Time 1992 genannte hatte? Ein nachträglicher Freispruch, kann das sein?
Zunächst: Einen förmlichen Freispruch gibt es natürlich nicht. Der Internationale Strafgerichtshof vermerkt[4] auf seiner Internetseite: “Verfahren gegen Slobodan Miloševi? beendet. Angeklagter verstarb in Haft am 11. März 2006.” Dennoch hat sich der Strafgerichtshof noch mal zum Fall Miloševi? geäußert – nämlich in dem Urteil[5] gegen Radovan Karadži?, den früheren Führer der bosnischen Serben. Ihn verurteilte das Gericht am 24. März 2016 zu 40 Jahren Haft, schuldig unter anderem wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Srebrenica.
Ein Urteil mit 2615 Seiten
In dem 2615 Seiten starken Urteil arbeitet das Kriegsverbrechertribunal die Beziehung zwischen Karadži? und Miloševi? auf. Und diese Darstellung hat es in sich: Demnach war Miloševi? nämlich keineswegs der irre Schlächter des Balkans, sondern viel eher Karadži?. Zwar habe Miloševi? die bosnischen Serben personell, logistisch und militärisch versorgt, so das Den Haager Gericht. Auch hätten beide das gleiche Ziel geteilt, “Jugoslawien zu bewahren und die Abspaltung oder Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina zu verhindern”. Das berücksichtigend, kommt das Gericht in Punkt 3460 zu dem Schluss:
Aufgrund der der Kammer vorliegenden Beweise gab es unterschiedliche Interessen zwischen den bosnischen Serben und der serbischen Führung während des Krieges. Besonders kritisierte und missbilligte Miloševi? wiederholt die Politik und die Entscheidungen des Angeklagten und der Führung der bosnischen Serben. Die Kammer ist nicht überzeugt, dass die in diesem Verfahren vorgelegten Beweise ausreichen, dass Slobodan Miloševi? dem gemeinsamen Plan zugestimmt hat.
Internationale Strafgerichtshof
“Völliger Irrsinn”
Der “gemeinsame Plan” beinhaltete laut Punkt 3463, alle bosnischen Kroaten und Muslime aus Gebieten zu entfernen, die die bosnischen Serben bis zum 30. November 1995 unter ihrer Kontrolle hatten. Dagegen habe Miloševi? schon 1992 vor einer “explosiven” Lage in Bosnien-Herzegowina gewarnt und den Angeklagten aufgerufen, die Lage zu “beruhigen” (3280). Bei einem Treffen in Belgrad am 15. März 1994, bei dem auch der Angeklagte und Ratko Mladi? (der derzeit in Den Haag vor Gericht steht wegen Völkermord in Srebrenica) waren, habe er klargestellt, dass “alle Mitglieder anderer Nationen und Ethnien geschützt werden müssen”. “Das nationale Interesse der Serben ist nicht Diskriminierung” (3288).
Ab 1992, spätestens ab 1994, seien die Differenzen zwischen Karadži? und Miloševi? offensichtlich gewesen, so das Urteil in Fußnote 11027: Miloševi? habe die bosnischen Serben wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuerungen offen kritisiert. Je größer die Meinungsverschiedenheiten wurden, desto weniger Einfluss habe Miloševi? gehabt (3290).
Dass die bosnischen Serben den Vance-Owen-Plan ablehnten, habe ihn schwer geärgert (3289). Miloševi? habe sich für eine Verhandlungslösung eingesetzt und gewarnt, dass die Welt es nie akzeptieren werde, wenn die bosnischen Serben, die nur ein Drittel der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina stellten, die Hälfte des Territoriums bekämen (3290). Noch mehr Gebiete zu erobern habe er als “völligen Irrsinn” bezeichnet (3294).
“Der verrückte Doktor”
Wegen der Meinungsverschiedenheiten habe Jugoslawien seine Unterstützung für die bosnischen Serben 1993 und 1994 reduziert und auf eine Friedenslösung gedrungen (3292): “Die jugoslawische Führung wusste, dass die Führung der bosnischen Serben einige extreme Ansichten hatte und dass sie diese Ansichten nicht unterstützen konnte, etwa in Bezug auf ethnische Säuberungen.”
Bei einem Treffen am 20. September 1994 mit Mladi? und anderen habe Miloševi? den Bruch offen angesprochen und klargestellt, dass serbische Politik in Belgrad und nicht in Pale, der Hauptstadt der bosnischen Serben, definiert werde. Er habe ein Ende des Krieges gefordert und gesagt, der größte Fehler der bosnischen Serben sei es gewesen, eine komplette Niederlage der bosnischen Muslime anzustreben.
Unter Anspielung auf Karadži?, der Doktor der Medizin ist, sagte er: “Der verrückte Doktor glaubt wohl, dass Serbien vor ihm zu Kreuze kriecht – aber das wird nicht passieren” (3293). Im Mai 1995 sei auch internationalen Beobachtern klar gewesen, dass der Bruch zwischen Miloševi? und dem Angeklagten vollständig war. In einem Treffen am 3. Mai 1995 habe Miloševi? gesagt: “Ich habe gute persönliche Beziehungen zu Mladi?. Aber solange Karadži? und Krajišnik da sind, werden sie keine friedliche Lösung akzeptieren.” Im November 1995 sagte Miloševi? vor dem Obersten Verteidigungsrat von Jugoslawien, Pale sei das Haupthindernis für eine territoriale Aufteilung von Bosnien-Herzegowina (3297), und verurteilte alle Versuche, mehr als die Hälfte von Bosnien-Herzegowina zu erobern:
Wir stellen ein Drittel der Bevölkerung […] Wir haben nicht das Recht auf mehr als die Hälfte des Gebietes. Man darf nicht etwas nehmen, was einem anderen gehört! […] Wie kann man annehmen, dass zwei Drittel der Bevölkerung in 30 Prozent des Staatsgebiets gesteckt werden können, während für Sie 50 Prozent zu wenig sind?! Ist das menschlich, ist das fair?!
Miloševi?
Ende der Schuld?
Mit diesem Zitat enden die Passagen über Miloševi? in dem Urteil des Den Haager Strafgerichtshofs gegen Karadži?. Entsprechend feiern Miloševi?-Anhänger das Urteil jetzt. Es zeige, dass “Miloševi? unschuldig war” und “die Beschuldigungen gegen ihn und gegen Serbien, die Teilrepublik Jugoslawiens, falsch und erlogen waren”, sagte[6] der serbische erste Vize-Premier und Außenminister Ivica Da?i?[7]. Er ist Vorsitzender der Sozialistischen Partei Serbiens, in den 1990ern war er Pressesprecher der Partei, als Miloševi? ihr Vorsitzender war. Heute distanziert er sich gelegentlich von seinen alten Ansichten, gibt sich pro-westlich und will Serbien in die EU führen.
In Serbien hat mit dem Urteil die Debatte über die eigene Vergangenheit, die Ära Miloševi? und den NATO-Krieg gegen das Land 1999 wieder begonnen. Milutin Mrkonji?, Ehrenvorsitzender der Sozialisten, sagte[8]: “Wir wissen alle, dass Miloševi? unschuldig war. Er sollte ein Denkmal und eine nach ihm benannte Straße erhalten.”
Als “Spieler von Weltformat” bezeichnet[9] ihn die Regierungszeitung “Politika”. Arbeitsminister Aleksandar Vulin sagte[10]: “Wenn dieses Tribunal anerkennt, dass Miloševi? nicht an organisierten kriminellen Vergehen beteiligt war, dann heißt das, dass Serbien im Recht war.”
Neutraler Premier, wütende Opposition
Ministerpräsident Aleksandar Vu?i? lehnte[11] es allerdings ausdrücklich ab, die Äußerungen seiner Minister zu kommentieren: “Ich habe keine Zeit, mich mit so was zu beschäftigen … Ich habe nicht die geringste Lust, wieder in den 1990ern zu leben, ich lebe und arbeite für die Zukunft von Serbien.”
Miloševi?-Gegner wittern indes “Geschichtsrevisionismus”. Der Vorsitzende der oppositionellen Liberaldemokratischen Partei (LDP), ?edomir Jovanovi?, erklärte[12] mit Blick auf Außenminister Da?i?, “Politiker, die versuchen, ihre Rolle in einer tragischen Politik zu rechtfertigen, sind der Grund für die Stagnation.”
Umstrittenes Denkmal
Im Internetdienst Twitter reagierten einige Nutzer belustigt[13] auf den Vorschlag, Miloševi? ein Denkmal zu errichten. Unter dem Hashtag “ein Denkmal für Slobo”[14] (#SpomenikSlobi) posteten sie Bilder, was sie an dessen Regierungszeit erinnere: Veröffentlicht wurden Banknoten aus der Zeit der Hyperinflation oder Flüchtlingstrecks.
Der serbische Präsident Tomislav Nikoli? nimmt die Idee eines Denkmals dagegen ernst. Selbst einst Vizeministerpräsident unter Miloševi?, meinte[15] Nikoli?, er sei “hin- und hergerissen”, ob ein Denkmal gebaut werden sollte. Es liege aber “nicht in seiner Macht”, das zu entscheiden.
Gericht in Erklärungsnöten
Die Anklage in Den Haag sieht Miloševi? keineswegs als entlastet an. Geoffrey Nice, seinerzeit stellvertretender Ankläger im Prozess, zeigte sich empört[16], dass der Angeklagte jetzt reingewaschen werden solle. Es sei so “simpel wie unwiderlegbar”, dass Serbien in dem Konflikt die meisten Verbrechen begangen habe, “und das führt zu Miloševi?”.
“Slobodan Miloševi? ist kein Held”, warnte auch der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien, Serge Brammertz, in einem Kommentar[17] für Al Dschasira. Es gebe auch keine Entlastung, denn “die einzige Person, über die im Fall Karadži? geurteilt wurde, war Karadži? selbst”, schrieb er. Die Beweislage gegen Miloševi? sei klar:
Unsere Ermittler haben überwältigende Beweise vorgelegt – mehr als 350 Zeugen und 5.700 Dokumente bestehend aus 150.000 Seiten -, die die behauptete kriminelle Verantwortlichkeit belegen. Bedauerlicherweise starb er 2006, bevor sein Verfahren abgeschlossen und ein Urteil gefällt werden konnte.
Serge Brammertz
Das Den Haager Gericht selbst betonte[18] auf Nachfrage des österreichischen “Kurier”, Miloševi? habe “den Bosnischen Serben Personal, Vorräte und Waffen während des Konflikts zur Verfügung gestellt”. “Im Karadži?-Fall wurde Herr Miloševi? also tatsächlich nicht beschuldigt. (…) Das hat aber keinen Einfluss auf den Status seines eigenen Falles oder seiner eigenen kriminellen Verantwortung”, so ein Gerichtssprecher.
Ein Freispruch?
Ist Miloševi? also nun entlastet und freigesprochen? Nein, denn erstens kommt in dem Gerichtsurteil der Kosovokrieg überhaupt nicht vor. Außerdem wäre zu diskutieren, ob die Ausführungen des Gerichts zum Verhältnis Miloševi?-Karadži? überhaupt zutreffen.
Aber es ist auf jeden Fall ein bemerkenswertes Urteil, schon allein deshalb, weil Miloševi? selber das Gericht in Den Haag gar nicht akzeptiert hat (Der Angeklagte als Ankläger[19]). Für ihn war es nur Siegerjustiz.
Links
[0] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.de
[1] http://www.heise.de/tp/artikel/22/22231/
[2] http://johnpilger.com/articles/provoking-nuclear-war-by-media
[3] http://content.time.com/time/magazine/article/0,9171,975723-1,00.html
[4] http://www.icty.org/en/action/cases/4
[5] http://www.icty.org/x/cases/karadzic/tjug/en/160324_judgement.pdf
[6] http://de.sputniknews.com/politik/20160816/312141854/karadzic-freispruch-serbien-milosevic.html
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Ivica_Da%C4%8Di%C4%87
[8] http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/5070470/Serbien_Ein-Denkmal-fur-Milosevic
[9] http://www.handelsblatt.com/politik/international/serbien-und-milosevic-milosevic-wird-reingewaschen/v_detail_tab_print/13306466.html
[10] http://www.b92.net/eng/news/crimes.php?yyyy=2016&mm=08&dd=15&nav_id=98895
[11] http://www.balkaninsight.com/en/article/milosevic-s-old-allies-celebrate-his-innocence–08-16-2016
[12] http://www.b92.net/eng/news/crimes.php?yyyy=2016&mm=08&dd=15&nav_id=98895
[13] http://www.politico.eu/article/twitter-mocks-proposed-monument-to-slobodan-milosevic-sebia-belgrade/
[14] https://twitter.com/hashtag/SpomenikSlobi?src=hash
[15] http://www.b92.net/eng/news/politics.php?yyyy=2016&mm=08&dd=18&nav_id=98938
[16] http://www.b92.net/eng/news/crimes.php?yyyy=2016&mm=08&dd=17&nav_id=98927
[17] http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2016/08/slobodan-milosevic-hero-160823124808287.html
[18] http://kurier.at/politik/ausland/belgrad-wird-die-kriegsschuld-nicht-los/216.373.011
[19] http://www.heise.de/tp/artikel/11/11936/
Autor: Dirk Eckert
Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/49/49472/1.html