junge Welt, 06.09.2003, Wochenendbeilage, S. 4/5
Internationale Politik Soziale Bewegungen UNO - Vereinte Nationen Wirtschaft Interview junge Welt
* Cecilia Oh kommt aus Malaysia, hat in Großbritannien Jura studiert und beobachtet in Genf für das „Third World Network“ (http://www.twnside.org.sg) die Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO. Das TWN hat seinen Hauptsitz in Malaysia und unterhält Büros in Afrika, Lateinamerika und Genf
F: Vom 10. bis zum 14. September tagt im mexikanischen Cancún die fünfte Ministerkonferenz der WTO. Stellt das Treffen eine Chance für die Länder des Südens dar?
Die Schlüsselfrage wird sein, ob es den Startschuß für Verhandlungen über neue Abkommen geben wird, Abkommen über Investitionen, Wettbewerb, Handelserleichterung und öffentliches Beschaffungswesen. Diese „Singapur-Themen“ sind seit 1996 auf der Tagesordnung und Teil der Agenda der entwickelten Länder, besonders der EU. Die Entwicklungsländer sträuben sich zwar gegen diese Verhandlungen, aber wir erwarten, daß sie trotzdem wieder gefragt werden.
F: Worüber wollen denn die Entwicklungsländer verhandeln?
Über dieselben Fragen, die sie schon vor dem Gipfel in Seattle 1999 aufgeworfen haben. Die Entwicklungsländer haben sich die bereits bestehenden Abkommen der Uruguay-Runde angesehen und argumentieren, daß es einige Probleme gibt, diese Abkommen umzusetzen. Ihre Volkswirtschaften sind oft nicht in der Lage, die hohen Standards zu erfüllen. Manche halten auch die Abkommen für nicht fair. Etwa das Landwirtschaftsabkommen, das staatliche Fördermittel zwar für europäische Bauern erlaubt, aber in den Ländern verbietet, in denen die Bauern bisher nicht gefördert wurden.
F: Welche Konsequenzen hätte es, wenn sich die Industrieländer mit den Singapur-Themen durchsetzen?
Das würde die Fähigkeit von Regierungen einschränken, eine bestimmte Politik zu verfolgen und Gesetze zu erlassen. Nehmen wir Investitionen: Regierungen dürfen dann keine Bedingungen aufstellen, wie Investitionen getätigt werden. Mit der Folge, daß sie nicht in der Lage sind, sich die Investoren herauszusuchen, die der Entwicklung des Landes nützen.
F: Das klingt nach einem Investitionsabkommen, wie es bereits 1998 innerhalb der OECD mit dem MAI gescheitert war.
Ein erster Schritt zu einem umfangreicheren Investitionsabkommen ist das Dienstleistungsabkommen GATS, das derzeit in der WTO neu verhandelt wird. Die EU fordert dabei zum Beispiel von Kamerun, Regelungen aufzuheben, nach denen Investoren eine gewisse Anzahl von Arbeitsplätzen an Kameruner vergeben müssen. Letztlich werden die Befürworter – Europa, Japan, bis zu einem gewissen Grad Kanada – dann argumentieren, daß Investitionen in der WTO sowieso schon auf die eine oder andere Weise geregelt sind, so daß man auch ein großes Investitionsabkommen abschließen kann.
F: Bietet die Liberalisierung des Welthandels den Entwicklungsländern auch Chancen? Zum Beispiel schottet die EU ihre Landwirtschaft ab. Käme die Öffnung der europäischen Märkte für Agrarprodukte aus dem Süden nicht den Interessen der exportierenden Länder entgegen?
Kein Entwicklungsland will heute zurück zum Protektionismus. Aber die Entwicklungsländer wollen eine Chance, in ihrer eigenen Geschwindigkeit zu liberalisieren, entsprechend ihren Bedürfnissen. Und wenn sie das können, dann sind sie vielleicht auch eher in der Lage, am internationalen Handelssystem teilzunehmen. Ich denke, daß ist eine faire Forderung. Deshalb wollen sie auch die alten Abkommen überprüfen. Ein Abkommen, das alle in dasselbe Schema zwingt, kann nicht funktionieren. Und viele fragen sich auch, ob nicht vielleicht die ganze Struktur der WTO überprüft werden muß.
F: Aber die WTO scheint demokratisch organisiert: ein Land, eine Stimme. Sie beobachten die WTO nun schon seit Jahren: Warum haben die Entwicklungsländer keinen Erfolg?
Es gibt in den WTO-Regeln ein Arbeitsverfahren, das aber nie angewandt wurde. Gängige Praxis ist, daß die Länder im Konsens beschließen. Aber dieses Konsensverfahren wirkt sich unglücklicherweise zugunsten der Länder aus, die im Welthandelssystem größer und mächtiger sind. Wenn diese Länder ein Abkommen wollen, suchen sie nach einem Konsens und versuchen, die verschiedenen Entwicklungsländer zur Zustimmung zu überreden.
F: Und wenn ein kleines Land sich weigert?
Dazu wird es nicht kommen. Erstens wäre es das einzige Land, das nicht zustimmen will, was für ein Entwicklungsland nur schwer auszuhalten ist. Zweitens gibt es externen Druck, zum Beispiel wenn ein Land einen Kredit vom IWF aufnimmt oder Entwicklungshilfe von anderen Ländern bezieht. Oft bekommen die Verhandlungsführer der Entwicklungsländer in Genf Anrufe von ihrer Regierung mit der Anweisung, die Verhandlungen nicht weiter zu erschweren, weil es sonst Schwierigkeiten mit einem Weltbankkredit gibt.
F: Manche verhandeln also mit der Waffe in der Hand?
Ja, in den WTO-Verhandlungen kann man sehen, wie die großen Länder ihre Macht einsetzen. In der WTO passiert mehr oder weniger dasselbe wie im Fall USA–Irak, nur daß es um Handel und Kommerz geht. Deshalb müßte es demokratische Prozesse innerhalb der WTO geben, die Entwicklungsländer müssen die Chance bekommen, Themen abzulehnen und sich mit den bestehenden Abkommen zu beschäftigen. Die größten Probleme bei der WTO sind die undemokratischen Verfahren und die fehlende Transparenz.
F: Halten Sie es für möglich, die WTO zu reformieren?
Bei den Nichtregierungsorganisationen und Aktivisten gibt es dazu zwei Lager. Die einen wollen die WTO einfach abschaffen. Die anderen argumentieren dagegen, die entscheidende Frage sei, ob wir ein internationales Handelssystem brauchen, das eine Art Leitung und Schutz für die kleineren Länder darstellt, so daß diese nicht von den großen Mächten, beispielweise den USA, verschluckt werden. Das ist auch der Hauptgrund, warum anfangs viele Entwicklungsländer der WTO beigetreten sind: Weil dann mehr Entwicklungsländer versammelt sind, die ein Gegengewicht darstellen.
Ich denke, ein derartiges System ist nach wie vor nötig. Aber die jetzige WTO ist kein solches System. Aus unserer Sicht sollten demokratische Verfahrensweisen eingeführt werden und die Regelsetzung in der WTO transparenter werden, um die Machtverhältnisse in ihr auszugleichen. Auch die unfairen Abkommen müssen geändert werden.
F: Die WTO ist eine Organisation für Handel, wie der Name schon sagt. Vielleicht müßte sie durch eine Organisation für Entwicklung ersetzt werden, zum Beispiel den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen oder die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD).
Sicher würden die Vereinten Nationen bessere Arbeitsstrukturen bieten. Aber die Realität ist, daß die WTO eine sehr mächtige Organisation ist, weil sie ein Streitschlichtungsverfahren hat. Aus diesem Grund werden viele Themen in die WTO eingebracht: Weil man Länder zwingen kann, sich zu unterwerfen. Solange es diese Streitschlichtungsverfahren gibt, müssen wir sicherstellen, daß in der WTO alles fair abläuft.
F: Gibt es in den Entwicklungsländern großen Widerstand gegen die WTO?
In Afrika zum Beispiel ist das regionale Büro des „Third World Network“ damit beschäftigt, afrikanische Nichtregierungsorganisationen zu koordinieren. Es gibt ein internationales Bündnis, das „African Trade Network“, in dem sich über 40 Organisationen – etwa Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Gruppen – damit beschäftigen, wie die WTO-Abkommen sich auf die Menschen und die Wirtschaft in Afrika auswirken. Sie erarbeiten Positionen und üben Druck auf ihre Regierungen aus, damit diese in den Verhandlungen nicht umfallen.
Aber es gibt eine noch größere, weltweite Koalition, über die wir sehr glücklich sind: „Our world is not for sale“. Dort arbeiten Menschen aus den verschiedensten Spektren. Es gibt welche, die wollen sofort ein anderes System anstelle der WTO, und solche, die nach Möglichkeiten für Veränderungen suchen. Ungeachtet dessen sehen sie die Notwendigkeit, zusammen für ein gemeinsames Ziel zu arbeiten: Daß die Menschen vor Ort verstehen, was in der WTO vor sich geht und was ihre Rolle sein sollte in den Protesten gegen das, was in der WTO durchgesetzt wird. Auch in Europa passiert viel. In Großbritannien gab es jüngst eine große Kampagne. 60 Organisationen von der „Trade Justice Movement“ haben rund 500 Parlamentsabgeordnete angeschrieben und gefragt, warum sie einem Investitionsabkommen zustimmen.
F: Gibt es Probleme bei der Zusammenarbeit zwischen Organisationen aus dem Süden und aus dem Norden?
Es gibt immer Probleme, aber an dem Beispiel von „Our world is not for sale“ zeigt sich, daß es sehr gute Kooperation zwischen Nord und Süd geben kann. Den Gruppen im Süden wird gerade bewußt, daß sie mit Gruppen im Norden zusammenarbeiten müssen. Was die Singapur-Themen betrifft, so werden sie von Europa forciert. Wir glauben, die europäischen Bürger und Bewegungen haben deshalb die Verantwortung, Druck auf ihre Regierungen auszuüben und uns bei unserem Widerstand zu helfen.
F: Worin sehen Sie die Rolle Ihrer Organisation, des „Third World Network“?
Das „Third World Network“ ist 1984 aus einem Bündnis von Gruppen hervorgegangen, die auf nationaler Ebene über Themen wie Strukturanpassungsprogramme, Umwelt oder Verbraucherschutz arbeiteten. Diese Gruppen stellten fest, daß nationale Politik der Regierungen oftmals durch die Politik von internationalen Organisationen abgelöst wurde. So entschlossen sie sich, das „Third World Network“ zu gründen und zu untersuchen, wie internationale Organisationen Entwicklungsländer beeinflussen.
In Genf besteht die Arbeit des TWN darin, die WTO-Verhandlungen zu beobachten und diese Informationen an die verschiedenen Protestgruppen weiterzugeben, aber auch an die Entwicklungsländer. Nicht alle von ihnen haben denselben Zugang zu Informationen wie Industrieländer, und wir versuchen, eine Art Gegengewicht herzustellen. Das ist ein anderes Schlüsselmoment bei der WTO: Je mehr Informationen man hat, desto mächtiger ist man.
F: Wie sind Ihre Beziehungen zu Regierungen im Süden? Sie geben Informationen weiter, aber oft stimmen solche Regierungen politisch überhaupt nicht mit Ihnen überein.
Wir untersuchen, wie sich die WTO auf die Entwicklungsländer als Ganzes auswirkt. Ich komme aus Malaysia, und Malaysia ist sehr freihandelsorientiert. Ich möchte natürlich, daß auch meine Regierung den Menschen verantwortlich ist und eine dementsprechende Position in der WTO einnimmt. Druck auf die Regierung auszuüben sollte aber den Gruppen überlassen bleiben, die auf nationaler Ebene arbeiten. Unsere Rolle besteht darin, die Informationen weiterzugeben. Wenn Regierung und Nichtregierungsorganisationen diese Informationen haben, liegt es in der Verantwortung der Regierung, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Manchmal haben sich Regierungen mit fehlenden Informationen rausgeredet. Jetzt haben sie diese Entschuldigung nicht mehr.
F: Das „Third World Network“ ist Mitglied des „NGO Advisory Committee for the WTO“. Walden Bello von „Focus on the Global South“ in Bangkok nannte das Komitee ein Trojanisches Pferd der WTO, das die Protestbewegung spalten und der WTO Legitimität verschaffen solle. Haben Sie nicht genug Distanz zur WTO?
Zunächst mal muß gesagt werden, daß wir nicht Teil des „NGO Advisory Committee“ sind. Es ist noch gar nicht eingerichtet, der Generaldirektor der WTO hat lediglich einige Nichtregierungsorganisationen eingeladen, Mitglied in diesem Komitee zu werden.
Wir – das sind der internationale Verband der Dienstleistungsgewerkschaften „Public Services International“, WWF, Oxfam und andere – haben dann beschlossen, daß wir nicht Teil eines Beratergremiums werden, aber einige von uns zu dem WTO-Treffen gehen, um herauszufinden, was die WTO will. Wir wollen dieses Treffen mit dem Generaldirektor nutzen, um ihn zu fragen, ob er uns demokratische und transparente Verfahrensweisen auf der Konferenz in Cancún zusichern kann.
F: Ist das nicht eine Illusion? Wenn die WTO etwas ändern wollte, bräuchte sie dazu nicht die NGOs.
Klar, sie machen, was sie wollen, auch ohne uns zu fragen, und wir wissen das. Aber wir wissen auch, daß nur wegen des Drucks der NGOs und der Bewegungen aus der Zivilgesellschaft überhaupt bestimmte Veränderungen in der WTO passieren. Ich verstehe, daß einige Gruppen, die nicht eingeladen wurden, irritiert sind. Deshalb wollen wir auch nicht Mitglied in einem Beratungsgremium sein. Denn wir wissen auch nicht, wie und warum diese verschiedenen Gruppen ausgewählt wurden.
Autor: Dirk Eckert