“Wir wissen gar nicht, was Bundeswehreinsätze bewirken”

Es ist an der Zeit, auch Militäreinsätze zu evaluieren, sagt Friedensforscher Matthias Dembinski. Dabei dürften die langfristigen Auswirkungen nicht vernachlässigt werden

Telepolis, 05.06.2016

Interview Telepolis

Dr. Matthias Dembinski leitet das Projekt “Humanitäre militärische Interventionen” bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Mit dem Pilotprojekt soll erstmals eine Datenbank aller humanitären militärischen Interventionen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut werden. Der HSFK-Report “Auslandseinsätze evaluieren, Wie lässt sich Orientierungswissen zu humanitären Interventionen gewinnen?” findet sich hier[1].

Telepolis: Ein Gesetzentwurf[2] von CDU/CSU und SPD sieht vor, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr evaluiert werden sollen. Evaluierung kennt man bisher eher aus der Wirtschaft, den Hochschulen oder der Entwicklungszusammenarbeit. Wie stellt sich die Regierungskoalition das konkret vor?

Matthias Dembinski: Das geht aus dem Gesetzentwurf selber nicht hervor. Und auch die Bundestagsdebatten geben darüber nur indirekt Aufschluss. Zunächst scheint es so zu sein, als seien die Regierungsabgeordneten an einer sogenannten zielorientierten Evaluierung interessiert. Außerdem geht es immer um die Evaluierung von Einzelfällen. Und dann schwingen da noch Subtöne mit: So könne eine Evaluierung sichtbar machen, welche Leistungen die Bundeswehr bringt, und so die Einsätze in einem positiven Licht erscheinen lassen.

Telepolis: Laut Gesetzentwurf sollen dadurch “Lehren für künftige Missionen” gewonnen werden. Zur Begründung heißt es in dem Gesetzentwurf, Evaluation sei ein “Baustein, um eine nachhaltige politische Unterstützung von Einsätzen im Bundestag zu erreichen”. Das klingt nicht gerade nach unabhängiger Untersuchung.

Matthias Dembinski: Das stimmt, aber ich denke, dem Bundestag als Institution geht es schon darum, wirklich zu erfahren, was bei solchen Einsätzen herauskommt.

Telepolis: Also ist noch nicht klar, wer die Evaluation machen soll?

Matthias Dembinski: Nein, wir stehen am Anfang der Debatte. Es gibt ja noch nicht mal das Gesetz, und ob der Bundestag den Entwurf in dieser Legislaturperiode beschließt, ist offen.

Telepolis: Wie sollte die Evaluierung von Bundeswehreinsätzen denn Ihrer Ansicht nach aussehen?

Matthias Dembinski: Da ist zum einen die Frage, wer evaluiert. Wir sind für ein Mischmodell. Es gibt Argumente dafür, warum die Institution, die Auslandseinsätze durchführt, also die Bundeswehr, beteiligt werden sollte. Aber es muss natürlich auch eine externe Beteiligung geben. Dann ist die Frage, wann die Evaluierung stattfinden soll – während, direkt nach Abschluss eines Einsatzes oder erst nach einiger Zeit, wenn man die Wirkungen besser abschätzen kann.

Schließlich stellt sich die Frage, was man eigentlich wissen will. Evaluierungen sind kein Selbstzweck, sondern sie sollen im Idealfall die Politik in die Lage versetzen, ihre eigenen Handlungen besser zu reflektieren und dann so umzusteuern, dass die Ergebnisse politischen Handelns besser werden. Die Frage ist also, gibt man sich mit einer reinen Zielorientierung zufrieden, oder ist man auch an den Wirkungen interessiert. Anders formuliert: Möchte man lediglich einfach erfassbare Aktivitäten der Truppe in den Blick nehmen – etwa wie viele Aufklärungsmissionen durchgeführt wurden – oder will man die direkten und indirekten Wirkungen sichtbar machen.

Telepolis: Sie unterscheiden deshalb zwischen ziel- und wirkungsorientierter Evaluation. Haben Sie ein Beispiel dafür, wie man zu anderen Ergebnissen kommt, je nachdem, welche Methoden angewendet werden?

Matthias Dembinski: Bei der Libyen-Intervention 2011 zum Beispiel fällt die Evaluation je nach Zeitpunkt sehr unterschiedlich aus. Direkt nach Ende des Einsatzes hätte man zu dem Ergebnis kommen können, dass die Intervention die selbstgesetzten Ziele erreicht hat: der Krieg wurde beendet, dem NATO-Einsatz fielen verglichen mit anderen Kriegen wenig Zivilisten zum Opfer, und es ließe sich argumentieren, dass Zivilisten geschützt wurden. Zwei Jahre später sah man erst, welch Chaos und Leid dieser Einsatz angerichtet hat.

Telepolis: Sie fordern, Bundestag und Bundesregierung sollten einmalig eine Evaluation aller humanitären militärischen Interventionen in Auftrag geben. Das klingt nach einem Großauftrag, ist das nicht etwas viel verlangt?

Matthias Dembinski: Evaluationen kosten natürlich Geld, aber im Vergleich zu dem, was ein einziger Militäreinsatz kostet, sind das verschwindend geringe Beträge. Zudem sollte man die Untersuchung beschränken auf die Zeit nach 1945, vielleicht sogar auf Interventionen erst nach 1989.

Telepolis: Warum reichen Einzelevaluationen nicht aus, warum die Gesamtuntersuchung?

Matthias Dembinski: Wenn man sich für Wirkungen interessiert, käme selbst eine gut gemachte Untersuchung des Einzelfalls nur zu wenig verlässlichen Aussagen. Denn es gilt nicht nur, relevante Veränderungen im Zielland zu erfassen. Um Erfolg oder Scheitern zu messen, schlagen wir vier Fragen vor: Erstens, endet die von Gewalt geprägte Notlage durch die Intervention überhaupt? Zweitens, geht zumindest die tödliche Gewalt zurück oder wird alles schlimmer? Drittens, führt die Intervention nur zu einem vorübergehenden Waffenstillstand, geht also der Konflikt weiter, sobald die Intervention vorbei ist? Viertens, wie sind die Auswirkungen auf Nachbarländer?

Es geht zweitens auch um die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Intervention und der beobachtbaren Veränderung besteht. Wir haben in einem früheren Projekt ca. 30 Interventionen daraufhin untersucht, ob die Gewalt innerhalb eines Jahres aufhört. Auf den ersten Blick sah es so aus, als habe die Intervention in einem Drittel der Fälle zu einem Ende der Gewalt innerhalb eines Jahres geführt. Dann haben wir eine andere Gruppe von Konflikten ohne Intervention angeschaut. Und auch dort endete die Gewalt im gleichen Zeitraum bei ca. einem Drittel der Fälle. Was man zuerst als Effekt der Intervention wahrnimmt, verschwindet also, wenn man den Blick auf die zweite Gruppe richtet.

Telepolis: Also wie bei Homöopathie: Die wirkt scheinbar bei Erkältungen, in Wirklichkeit aber verschwindet der Schnupfen sowieso irgendwann von alleine.

Matthias Dembinski: Genau. Das Problem der Kausalität ist mit Einzelfallstudien nicht in den Griff zu kriegen. Einzelfallevaluationen haben ihren Wert. Aber selbst aufwändige Untersuchungen eines Falles lassen keine verlässlichen Aussagen darüber zu, ob etwa ein Gewaltrückgang von der Intervention bewirkt wurde.

Telepolis: Wie sieht wirkungsorientierte Evaluierung konkret aus?

Matthias Dembinski: Wenn man wirkungsorientiert vorgeht und wissen will, ob eine Intervention positive oder negative Veränderungen bewirkt hat, darf man den Blick nicht nur auf einen Fall richten. Der Blick auf die Gesamtmenge von Interventionen kann Durchschnittseffekte sichtbar machen und er kann mit Hilfe gut gewählter Vergleiche verlässlicher Wirkungen aufzeigen.

Telepolis: Sie selbst sprechen von “humanitären militärischen Interventionen” und untersuchen diese in einem HSFK-Forschungsprojekt. Warum eigentlich – ist das nicht schon ein Propagandabegriff, wäre der Begriff “Auslandseinsätze” nicht präziser und zugleich umfassender?

Matthias Dembinski: Nein, Auslandseinsätze können der Einsatz von zwei Offizieren in einer UN-Mission sein oder eben der Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Diese verschiedenen Einsätze in einen Topf zu werfen, ist nicht sinnvoll.

Telepolis: Wie definieren Sie dann humanitäre militärische Interventionen?

Matthias Dembinski: Diese Interventionen zeichnen sich dadurch aus, dass ein Staat Truppen in einen anderen Staat entsendet, diese zur Gewaltanwendung autorisiert sind und das Motiv erkennbar ist, fremde Menschenleben schützen zu wollen. Das muss nicht das einzige Motiv sein, aber es muss in einem Bündel von vielen Motiven als eines erkennbar sein.

Das ist eine relativ weite Definition, wir sind aber nicht auf die Wortwahl “humanitäre militärische Intervention” fixiert. Es geht um Einsätze, die in Deutschland in der öffentlichen Debatte eine große Rolle gespielt haben und wahrscheinlich auch in Zukunft spielen werden. Es geht um die umstrittensten Arten von Auslandseinsätzen.

Telepolis: Militäreinsätze sind häufig überhaupt nicht vergleichbar. Kann man da überhaupt generalisierende Aussagen gewinnen?

Matthias Dembinski: Damit sprechen Sie ein weiteres Problem an, nämlich die Frage der Generalisierung von Erkenntnissen aus Einzelfallevaluationen. Auch hier argumentieren wir, dass eine Kombination von Gesamtanalyse und Einzelfalluntersuchung helfen kann, Regelmäßigkeiten zu erkennen und die Spezifik einzelner Fälle besser zu erfassen. So kann man dann herausarbeiten, inwieweit ein zukünftiger Fall vergleichbar ist mit einem vergangenen.

Telepolis: Was nützen Ihre Forschungsergebnisse eigentlich im politischen Alltag? Was bringt eine Datenbank einem verantwortlichen Politiker, der schnell über einen KSK-Einsatz entscheiden muss?

Matthias Dembinski: Evaluierung ist kein Allheilmittel und nimmt politischen Entscheidungsträgern auch keine Verantwortung ab. Es geht um die Bereitstellung von Orientierungswissen. Es geht darum, Entscheidungsträger für bestimmte Risiken zu sensibilisieren, darauf hinzuweisen, dass bestimmte Vorgehensweisen sehr negative Wirkungen hatten, andere weniger katastrophal waren. Mit diesem Wissen haben Politiker dann die Möglichkeit, anstehende Entscheidungen auf der Grundlage von Erfahrungswissen treffen zu können.

Telepolis: Kritiker befürchten, dass die Evaluierung nur dazu dient, zusätzliche und nachträgliche Legitimation für Bundeswehreinsätze herbeizuschaffen.

Matthias Dembinski: Evaluierungen müssen ergebnisoffen sein. Möglicherweise stellt sich als Ergebnis einer Gesamtevaluation heraus, dass Auslandseinsätze nichts erreicht haben. Möglicherweise kommen wir auch zum Ergebnis, dass bestimmte Einsätze erfolgreicher sind als andere. Das Problem ist, dass wir das gar nicht so genau wissen. Wir sehen, dass eine Reihe von Einsätzen die Gewaltlage eher verschlimmert als verbessert hat, etwa in Libyen oder im Irak. Dem steht eine Reihe von Interventionen entgegen, die mit einer deutlichen Verbesserung der Gewaltlage einhergehen. Vor dem Hintergrund, dass die Politik jetzt eine größere deutsche Rolle in der Welt fordert, finde ich es wichtig, dass Entscheidungsträger und die Gesellschaft mehr Wissen über die Wirkung von Auslandseinsätzen zur Verfügung hat.

Telepolis: Und jetzt fordern Sie Nachbesserungen am Gesetzentwurf?

Matthias Dembinski: Nein, der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Grundsätzlich ist das Vorhaben, Auslandseinsätze zu evaluieren, richtig. Wenn das Gesetz da ist, geht es um die Frage des Wie. Und da haben wir sozusagen einen Stein ins Wasser geworfen und erste Vorschläge gemacht, um die Diskussion anzustoßen.

Telepolis: Haben Sie in Ihren bisherigen Forschungsprojekten eigentlich schon erfolgreiche humanitäre militärische Interventionen identifiziert?

Matthias Dembinski: Es gibt Einsätze, die sind erfolgreich gewesen. Australien hat 2003 auf den Salomonen in einer Situation der Anarchie interveniert, die Entwicklung danach verlief positiv. Ebenso in Ost-Timor. Es gibt außerdem einige UN-Interventionen, die nach unseren Kriterien positiv verlaufen sind. Von daher ist die Bilanz gemischt. Die Herausforderung ist, mehr Wissen darüber zu erlangen, welche Interventionen erfolgreich waren oder scheiterten und warum.

Telepolis: Und von welcher Art Einsatz würden Sie eher abraten?

Matthias Dembinski: Hier steht die Forschung am Anfang. Einzelne Beispiele zeigen, dass man sehr vorsichtig sein sollte bei Einsätzen, die starke politische Akteure und Gewaltakteure in einem Land in ihren Interessen herausfordern.

Die Intervention in Somalia 1992 zum Beispiel sollte zunächst die Anarchie dort beheben und Lebensmitteltransporte absichern. Im Laufe des Einsatzes kamen die USA als die führende Interventionsmacht zum Schluss, dass sich die Situation nur verbessern lässt, wenn sie eine Reihe von Gewaltakteuren, die sie als eine Kombination von Warlords und Gangstern wahrnahmen, in die Schranken weisen. Sie identifizierten Mohammed Aidid und seine Somali National Alliance als entscheidendes Hindernis auf dem Weg zu mehr Stabilität und Frieden und versuchten, ihn militärisch zu besiegen. Das haben sie aber nicht mit genügend Truppen gemacht, und so ging der ganze Einsatz schief.

Eine andere Empfehlung wäre, die Ziele nicht zu ambitioniert zu formulieren. Man sollte nicht zu viel erreichen wollen mit zu wenigen Ressourcen. Aber wie gesagt, wir stehen da ganz am Anfang der Forschung.

Links

[1] http://www.hsfk.de/fileadmin/user_upload/report0816.pdf

[2] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/073/1807360.pdf


Autor: Dirk Eckert

Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/48/48431/