Verwundbare Seewege? Die EU sucht eine Europäische Maritime Sicherheitsstrategie

Streitkräfte und Strategien (NDR Info), 05.10.2013

NDR Radio

O-Ton Bundeswehr-Spot (bundeswehr-handys)

Zwei Jugendliche sind frustriert: Da wollen sie im Internet Handys kaufen – aber die sind plötzlich nicht mehr lieferbar, wie sie feststellen. „Handys kommen über’s Meer“, klärt der Film auf, den die Bundeswehr als Werbung auf das Videoportal Youtube eingestellt hat. Und während Soldaten von Bord eines Schiffes ins Meer feuern, liest der Zuschauer:

Zitat:

„Unser Wohlstand hängt wesentlich vom Handel über die Weltmeere ab. Der Handel über die Weltmeere erfordert sichere Seewege. Eine starke Marine schützt diese Seewege.“

Der Spot ist nicht der einzige seiner Art. Weitere gibt es zu Bananen und Benzin, die Botschaft ist jedes Mal die gleiche: Würde die Marine nicht die Seewege sichern, es wäre bald vorbei mit unserem Wohlstand. Und das lässt sich den Bürgern am besten an Bananen, Handys und Benzin zeigen, hat sich die Bundeswehr da offenbar gedacht.

In dieselbe Richtung denkt wohl auch die EU-Kommission: In Brüssel wird derzeit über eine Europäische Maritime Sicherheitsstrategie beraten. Ein erster Entwurf ist womöglich Ende des Jahres fertig. Europa müsse endlich definieren, worin seine Interessen auf See bestehen und wie diese geschützt werden können, fordert Fregattenkapitän Markus Harder, zurzeit tätig für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin:

O-Ton Harder

„Man muss sich an einen Tisch setzen, und zwar mit allen Playern. Und muss wirklich klar definieren, wo sind unsere Interessen. Die EU hat ja ihre maritimen Interessen durch die integrierte Meerespolitik schon sehr gut beschrieben. Wobei die Beschreibung doch sehr wirtschaftlich und ökologisch ist und man vergessen hat, eben auch entsprechende Schutzmechanismen zu definieren. Aber der erste Schritt ist ja schon getan worden. Und bei der EU verhält sich das leider ähnlich wie bei der Bundesrepublik Deutschland, dass in der Europäischen Sicherheitsstrategie das Maritime so ein bisschen hinten runter gefallen ist.“

Harder verweist auf die geltenden Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011, wonach es Aufgabe der Bundeswehr ist, für freien und ungehinderten Welthandel sowie freien Zugang zu natürlichen Ressourcen zu sorgen. Und dazu gehört für ihn viel mehr als nur die Bekämpfung der Piraterie wie am Horn von Afrika, an der die EU beteiligt ist: Küstenkriminalität, illegale Migration, ökologische Probleme oder ökonomische Konkurrenzkämpfe auf See könnten Europas Stellung unter den modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften ebenso gefährden wie die Kriminalität auf See, argumentiert der Marineoffizier. Europa müsse deswegen dringend seine „gegenwärtige kontinentale Beschränkung“ revidieren.

Sollen nun also deutsche Interessen statt am Hindukusch an der Straße von Malakka verteidigt werden? Oder vor der Küste Somalias und oder am Golf von Guinea? Mit solchen Überlegungen hatte sich vor nicht allzu langer Zeit ein deutscher Bundespräsident heftige Kritik eingehandelt. 2010 sagte Horst Köhler nach einem Besuch bei der Bundeswehr in Afghanistan auf dem Rückflug in einem Interview mit dem Deutschlandradio Kultur:

O-Ton Köhler

„Meine Einschätzung ist aber, dass wir insgesamt auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“

Damals war die Empörung groß. Deutschland dürfe keine Wirtschaftskriege führen, kritisierte die Opposition. Köhler fühlte sich missverstanden und verkündete, dass die harte Kritik den Respekt vor dem Amt vermissen lasse. Und er nahm das zur Begründung, von seinem Amt als Bundespräsident zurückzutreten. Doch in der Sache hatte Köhler nur geltende Beschlusslage vertreten, sagt Fregattenkapitän Markus Harder:

O-Ton Harder

„Er hat da einen ganz wunden Punkt getroffen, den es auch wieder aufzunehmen gilt. Da wird Deutschland und im weiteren Schritt auch die EU nicht drum herumkommen. Und da muss dann eben auch klar mal ausgesprochen werden, wo hören geographisch unsere Interessen auf.“

Das freilich muss politisch entschieden werden. Und auch, was aus einer neuen Strategie eigentlich erwachsen soll. Der finanzielle Spielraum ist jedenfalls gering. Schon von daher erwartet Hans-Georg Ehrhart vom Zentrum für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien (ZEUS) nicht, dass sich die EU auf absehbare Zeit in eine globale Seemacht verwandeln wird:

O-Ton Hans-Georg Ehrhart

„Und da kommt man ja in ein schwieriges Gebiet, weil überall sind die Budgets knapp und es wird gekürzt. Und es wird noch ein paar Jahre so anhalten. Und von daher gesehen wird es in erster Linie um mehr Kooperation gehen, um mehr Zusammenarbeit, weil man allein immer weniger machen kann und sich überlegen muss, wie man eben die Ressourcen, die man hat, zusammen sinnvoll nutzt.“

Europa müsse sich überlegen, wie bestimmte Seegebiete stärker von der EU überwacht werden können, um Piraterie zu bekämpfen, sagt Ehrhart. Fregattenkapitän Harder rät zu verstärkter Kooperation:

O-Ton Harder

„Das ist ja schon ein erster Weg, wenn beispielsweise die Niederlande und Belgien eine gemeinsame, offiziell bilaterale Marinekooperation anstreben, dann ist das ein erster Schritt, die Fähigkeiten zu teilen und die Kosten zu senken. Das ist ein Weg, der natürlich, wenn es denn dann irgendwann zu einer Maritimen Sicherheitsstrategie der Europäischen Union kommt, auch entsprechend ausgeweitet werden könnte. Und im Grunde genommen ja im Interesse aller wäre. Denn zum einen würden natürlich Freiräume geschaffen werden für die einzelnen Länder. Die Fähigkeiten der Länder könnten gesteigert werden und somit auch die Fähigkeiten der EU. Und gleichzeitig findet natürlich eine Lastenteilung und eine Maximierung der Kosteneffizienz jedes einzelnen Landes statt.“

Viel weiter geht eine Gruppe von Militärs und Wissenschaftlern der Bundeswehr-Universität in München. Sie diagnostiziert eine „Seeblindheit“ in Deutschland und warnt in einem Strategiepapier sogar vor einem „maritimen 11. September“, etwa wenn ein Schiff entführt und als Waffe missbraucht werden könnte. Sie monieren nicht nur die ihrer Ansicht nach zu geringen Ausgaben für die deutsche Marine, sondern fordern für Deutschland unter anderem eine nationale Küstenwache und ein Ministerium für Handelsschifffahrt.

Dabei scheuen sie sich auch nicht, auf den deutschen Admiral Alfred von Tirpitz und das ausgehende 19. Jahrhundert zurückzugreifen.

Zitat: „Das maritime Bewusstsein muss nicht nur stärker werden, weil Deutschland andernfalls in der Konkurrenz zu den alten und neu aufkommenden maritimen Mächten des 21. Jahrhunderts ‚verkümmern’ würde, wie einst Admiral von Tirpitz das kaiserliche Flottenbauprogramm begründete. Es geht eher um die Beherzigung einer Einsicht Alfred Thayer Mahans, dass die Kontrolle über die See den ökonomischen Wohlstand eines Staates bestimmt.“

Alfred Thayer Mahans war ein amerikanischer Marinestratege, dessen bekanntestes Werk „Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte“ von 1890 seinerzeit Admiral Tirpitz und seinen Kaiser Wilhelm II. in ihrer Flottenaufrüstung bestärkten. Was die Bundeswehr-Wissenschaftler allerdings nicht erwähnten: Am Ende dieser Politik stand der Erste Weltkrieg mit Millionen Toten. Insofern werden Tirpitz und die wilhelminische Flottenrüstung hoffentlich kein Vorbild für europäische Strategieüberlegungen im 21. Jahrhundert.


Autor: Dirk Eckert

MP3: http://media.ndr.de/download/podcasts/podcast2998/AU-20131004-1420-5842.mp3