Flüchtlingsschutz als Gnadenakt

Österreich will Individualrecht auf Asyl abschaffen

Sozialistische Zeitung - SoZ, 17.09.1998, Nr. 19, S. 4

Interview Sozialistische Zeitung - SoZ

Ein als “Migrationspapier” bekannt gewordenes Strategiepapier, das das österreichische Innenministerium der EU vorgelegt hat, schlägt hohe Wellen. Österreich will zur “Steuerung” von Flüchtlingsbewegungen die Genfer Flüchtlingskonvention ändern. Für die SoZ sprach Dirk Eckert mit HARALD LÖHLEIN, Vorstandsmitglied im Europäischen Flüchtlingsrat, einem Zusammenschluß von über sechzig Flüchtlingshilfeorganisationen aus zwanzig Ländern.

SoZ: Österreich, das gerade den Vorsitz in der EU hat, will Schutzgewährung für Flüchtlinge nicht mehr als Individualrecht, sondern als politisches Angebot des Aufnahmelandes verstanden wissen. Was hätte das für Konsequenzen?

Harald Löhlein: Im Migrationspapier ist die Rede von einer Option, einer Möglichkeit der Aufhebung der Genfer Flüchtlingskonvention. Das wäre ein totaler Rückschritt, weil es dann keinen Rechtsanspruch auf Asyl mehr geben würde. Es wäre ins Belieben der europäischen Staaten gestellt, wen und wieviele Menschen sie aufnehmen wollen. Und Flüchtlinge könnten leichter an den Grenzen zurückgewiesen werden.

SoZ: In der EU setzt sich Österreich für eine neue Flüchtlingspolitik ein. Im Migrationspapier ist die Rede von einem System mit rascher Behandlung “offensichtlich unbegründeter Asyl- und Zuwanderungsanträge”. Was bedeutet in diesem Zusammenhang “offensichtlich unbegründet”?

Harald Löhlein: “Offensichtlich unbegründet” kann ein Asylantrag sein, wenn er beispielsweise in sich widersprüchlich und unglaubwürdig ist. Im Kern ist das nichts neues, das machen die meisten europäischen Staaten jetzt schon, wie auch vieles andere, was im Migrationspapier angesprochen wird.

Was tatsächlich neu ist, ist die grundsätzliche Infragestellung der Genfer Flüchtlingskonvention, und zwar aufgrund einer falschen Analyse. Im Papier heißt es, in den letzten Jahren sei die Zahl der interethnischen Konflikte angestiegen, was ja auch zutrifft. Und diese neue Entwicklung werde durch die Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr abgedeckt. Das ist natürlich falsch.

Das Problem ist nicht die Genfer Flüchtlingskonvention als solche, sondern die restriktive Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention durch einzelne europäische Staaten, insbesondere durch Deutschland, Österreich und Frankreich. Letztere argumentieren, daß nichtstaatliche Verfolgung kein Asylgrund sei. Aber das steht in dieser Form in der Genfer Flüchtlingskonvention nicht drin.

Die Genfer Flüchtlingskonvention wird zuerst sehr restriktiv interpretiert, und im zweiten Schritt wird behauptet, sie reiche nicht mehr aus. Zuletzt wird sie grundsätzlich in Frage gestellt. Das ist natürlich ein Zirkelschluß, den wir für gefährlich und für nicht akzeptabel halten.

SoZ: Läßt sich eine Verschärfung der europäischen Flüchtlingspolitik noch verhindern?

Harald Löhlein: Die Tendenz in allen europäischen Ländern geht in den vergangenen Jahren mehr oder weniger in Richtung Abschottung. Das wird in dem Migrationspapier auch treffend beschrieben. Da wird gesagt, in den vergangenen Jahren ist eigentlich nur eine restriktive Asylpolitik betrieben worden. Das wird in aller Offenheit so geschrieben und dem ist nur zuzustimmen.

Im Augenblick sehe ich noch keine Trendwende hin zu einer liberaleren Asylpolitik. Neuere Entwicklungen gibt es im Bereich der vorübergehenden Schutzgewährung. Unsere Befürchtung ist, daß immer mehr Flüchtlingen europaweit und insbesondere in der BRD zukünftig nur noch ein temporärer Schutz gewährt wird. Wie beispielsweise den Bosniern, die überwiegend nur eine Duldung gekriegt haben, aber keinen richtigen Aufenthaltstitel.

Das ist eine Tendenz, die sich europaweit fortsetzt: keine richtige Asylgewährung mit längerem Aufenthaltstitel, sondern nur vorübergehende Aufnahme. Und vorübergehende Aufnahme heißt dann eben auch: kein Recht auf Familienzusammenführung, möglicherweise kein Zugang zum Arbeitsmarkt und große Unsicherheit für die davon Betroffenen.

SoZ: Welche Zukunft hat das Migrationspapier?

Harald Löhlein: Mehrere europäische Staaten haben sich bereits von dem Papier distanziert. Auch die Österreicher haben schon gesagt, daß sie es in dieser Form nicht aufrecht erhalten wollen. Insofern denke ich, daß das Papier, wenn es überhaupt aufrecht erhalten wird, noch überarbeitet werden wird. Aber die Kernpunkte dieses Papiers werden natürlich weiterverfolgt. Abzuwarten bleibt, was davon wirklich auf die politische Agenda kommt.


Autor: Dirk Eckert