Kostbarkeiten am Rande der Grube

Auch beim Braunkohletagebau machen Archäologen ihre Entdeckungen. Zum Beispiel Urnen aus der Eisenzeit oder römische Villen. Mit Notgrabungen retten die Ausgräber Bodendenkmäler in Garzweiler, Hambach und Inden, bevor die Kohlebagger anrücken.

Impuls (SWR2), 24.07.2017

Radio Reportage SWR2

Es sieht aus wie eine Mondlandschaft. Irgendwo in dem gigantischen Loch steht ein riesiger Bagger, weiter hinten noch einer. Hier wird Braunkohle abgebaut. Langsam fressen sich die Bagger durch die Erde. Am Rande der Grube hat Timo Bremer seinen derzeitigen Arbeitsplatz. „Werksanlagen – Absolutes Betretungsverbot für Betriebsfremde“, warnt ein Schild. „Vorsicht Absturzgefahr!“ Der Archäologe geht routiniert dran vorbei, rüber zu den mittelalterlichen Mauerresten. Hier stand einst das Dorf Vilvenich mit der Kapelle St. Helena, die Archäologen konnte mehrere Vorgängerkirchen nachweisen. Es ist ziemlich windig.

O-Ton Bremer:

„Wir werden dann wahrscheinlich mit einem großen Bagger hier schichtenweise das abnehmen müssen und versuchen noch zu dokumentieren, was noch zu dokumentieren ist dann. Viel mehr Möglichkeiten werden hier zeitlich nicht mehr bleiben.“

Es ist eine Rettungsgrabung, die Timo Bremer im Tagebau Inden im rheinischen Braunkohlerevier leitet. Die Bagger sind nicht mehr weit weg. Zwar ist lange bekannt, dass hier Braunkohle abgebaut werden soll. Alle Proteste um Umweltschützer konnten daran nichts ändern. Aber am Ende ist die Zeit immer knapp, die Archäologen können nur versuchen zu retten, was zu retten ist.

Plötzlich stehen wir mitten in Menschenknochen. Hier ein paar Schädelfragmente, da ein paar lange Knochen. Die sterblichen Überreste auf dem Kirchengelände bestatteter Kinder, wahrscheinlich aus der Karolingerzeit. Die werden noch geborgen, erklärt Bremer.

O-Ton Bremer:

„Also die sind ja auch noch hochinteressant für weitere Untersuchungen. Daran kann man feststellen, woran sind die gestorben, warum sind die so jung gestorben. Man kann die Bevölkerung rekonstruieren, man kann vielleicht darauf schließen, wie hoch war die Kindersterblichkeit in der Zeit. All so was kann man daraus rekonstruieren und deswegen sind sie von unschätzbarem Wert.“

Die Kirche ist nicht das einzige, was die Archäologen in jüngster Zeit zutage gefördert haben. Im vergangenen Jahr entdeckten sie im Tagebau Hambach eine Jupiterstute im Brunnen einer Römer-Villa. Überreste von antiken Streibtäfelchen belegen, dass auch auf dem Lande gelesen und geschrieben wurde. Dieses Jahr ist ein Highlight der Stempel eines römischen Augenarztes samt Rezept. Quintus Coponius Cosmus war sein Name und er verschrieb Safran gegen eine bakterielle Augenentzündung. Außerdem wurde im Tagebau Inden ein Gräberfeld aus der Eisenzeit mit fast 600 Gräbern gefunden. Und in Gartzweiler konnten historische Kenntnisse über das Rittergut Haus Palant erweitern werden.

Alles könne die Archäologen aber nicht untersuchen. Voruntersuchungen des Bodens helfen, die Stellen auszumachen, wo sich eine Grabung lohnen könnte. Mit Luftbildern, Metalldetektoren oder elektromagnetischen Untersuchungen lässt sich ermitteln, wo Befunde zu erwarten sind. Mauerreste, Kisten, Gräber oder Metallteile führen zu Veränderungen im Bewuchs, in der Erdfarbe oder im natürlichen Erdmagnetfeld. Der Bergbau ist für die Archäologen auch eine große Chance. Sie können große Flächen untersuchen und nach Herzenslust umgraben, wie das sonst kaum möglich ist. Jürgen Kunow vom Landschaftsverband Rheinland:

O-Ton Kunow:

„Wir haben dadurch eine Untersuchungssituation, wie man sie sozusagen im gesamten ehemaligen Imperium Romanum im ländlichen Bereich nicht wiederfindet. Das ist also eine Forschungsdichte, die einfach durch vier Jahrzehnte Feldforschung geschaffen ist.“

Für die Ausgrabungen steht ein Stiftungsvermögen von rund 20 Millionen Euro zur Verfügung. Das Bergbauunternehmen RWE, das Land das Nordrhein-Westfalen und der Landschaftsverband haben die Stiftung 1990 gegründet, um die Folgen der Kohleförderung für die Bodendenkmalpflege abzumildern. Vorstandsmitglied Thomas Otten:

O-Ton Otten:

„Also das ist schon eine Situation, eine Struktur, die auch bundesweit so in dem Umfang und in der Art einzigartig ist. Das gibt es in allen anderen Landesarchäologien nicht.“

So rücken die Archäologen immer aus, bevor die Bagger kommen. Es ist ein Arbeiten zwischen der normalen Welt und dem Tagebau, immer am Rande der Grube. „Living on the Edge” für Archäologen sozusagen. Die Zusammenarbeit mit RWE Power laufe gut, betont , erklärt Udo Geilenbrügge, der die Ausgrabungen leitet.

O-Ton Geilenbrügge:

„Das ist eigentlich schon total durchorganisiert. Wir bekommen von dem Bergbauunternehmen immer aktuelle Abbauzahlen und Daten mitgeteilt, so dass wir eben unsere Grabungen darauf ausrichten können.“

Und trotzdem: Unterm Strich könnten die Archäologen nur 5 Prozent der Erde durchkämmen, bevor die Braunkohlebagger anrücken, sagt Udo Geilenbrügge.

O-Ton Geilenbrügge:

„Gerade wenn man auch neue Kollegen dann hier hat, die sich dann eben auch noch gewöhnen müssen, dass es tatsächlich nicht möglich ist, alles, was man kennt und was sicherlich auch Wert gewesen wäre auszugraben, auch tatsächlich zu untersuchen.“

Das war auch in der Kapelle St. Helena so. Auch sie ist inzwischen weggebaggert. Welche Schätze im Boden noch vergraben waren – keiner wird es jemals wissen. Wenn die Kohlebagger anrücken, müssen die Archäologen flüchten. Udo Geilenbrügge:

O-Ton Geilenbrügge:

„Aber wir kommen manchmal natürlich schon diesem riesigen Ungetüm ziemlich nah. Und dann sieht man eigentlich, was für ein Größenverhältnis da existiert, wenn der kleine David gegen diesen riesigen Goliath da versucht anzukommen.“


Autor: Dirk Eckert

MP3: http://avdlswr-a.akamaihd.net/swr/swr2/impuls/beitraege/2017/07/24-kostbarkeiten-am-rande-der-grube.m.mp3