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Gaza, im Sommer während des Krieges zwischen Israel und der Hamas. Am Grenzübergang Rafah wird ein israelischer Soldat vermisst. Wurde er getötet, wurde er entführt? Zunächst geht die Armee offenbar von einer Entführung aus. Beim Versuch, die Entführer zu stoppen, wird laut Presseberichten die sogenannte Hannibal-Direktive in Kraft gesetzt.
Was dann folgte, war ein massiver Einsatz an Gewalt. Weit mehr als 100 Palästinenser sollen bei den weiteren Kämpfen und Luftangriffen getötet worden sein, darunter auch viele Zivilisten. Dabei war, wie sich später herausstellte, der Vermisste, der Soldat Hadar Goldin, zu diesem Zeitpunkt längst tot. Später teilte die israelische Armee dann auch mit, seine sterblichen Überreste seien identifiziert worden.
Dabei ist unter Völkerrechtlern unstrittig, dass die israelische Armee grundsätzlich jedes Recht hat, in Kriegssituationen wie dieser die Entführung eines Soldaten zu verhindern und auf gegnerische Kämpfer zu schießen. Hans-Joachim Heintze, Professor am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Universität Bochum, erklärt, warum:
O-Ton Heintze
„Wenn in einem bewaffneten Konflikt Kombattanten einer Kriegspartei in die Hände der anderen Partei fallen und diese Kombattanten sollen als Geiseln missbraucht werden, so hat der entsendende Staat die Pflicht, fürsorglich für seine Soldaten tätig zu werden und alles zu unternehmen, diesen Soldaten aus der Hand des Gegners zu befreien. Allerdings muss das in einem verhältnismäßigen Maßstab erfolgen. Das heißt, bei diesen Maßnahmen darf das Leben der Geisel nicht gefährdet werden und es darf auch kein übermäßiger Kollateralschaden eintreten.“
Allerdings ist es unklar, wie die Hannibal-Direktive das Problem der Verhältnismäßigkeit löst. Ihr Text ist öffentlich nicht bekannt. 2003 hat aber die israelische Tageszeitung HAARETZ erstmals über die geheime Direktive berichtet und ihren wesentlichen Inhalt wiedergegeben. Seither haben sich gelegentlich israelische Militärs zu der Direktive geäußert. Mit der Folge, dass der offiziell immer noch geheime Befehl inzwischen einen englischen und einen deutschen Wikipedia-Eintrag hat.
Die Hannibal-Direktive, auch Hannibal-Protokoll genannt, wurde demnach 1986 formuliert – nach der Entführung zweier israelischer Soldaten im Süd-Libanon. Sie fordert den Einsatz massiver Gewalt, um die Entführer zu stoppen. Dabei ist es auch erlaubt, den Tod des entführten Soldaten in Kauf zu nehmen. Eine Tonaufnahme eines Kommandeurs im Gaza-Krieg 2009, die bei Youtube kursiert, legt zudem nahe, dass ein entführter Soldat auch angehalten ist, im Falle einer Entführung Selbstmord zu begehen.
Doch überprüfbar ist das nicht. Israelische Militärs haben dieser Deutung jedenfalls in ihren Stellungnahmen zur Hannibal-Direktive widersprochen. Auch der Name Hannibal soll zufällig ausgewählt worden sein. Den inoffiziösen Verlautbarungen nach ist er keine Anspielung auf den karthagischen Feldherrn Hannibal, der sich lieber selbst tötete, als den Römern in die Hände zu fallen.
Wegen des jüngsten Gaza-Krieges fordert die israelische Bürgerrechtsorganisation Association for Civil Rights in Israel (ACRI) nun, die damalige Anwendung des Hannibal-Protokolls zu untersuchen. Für problematisch halten die Bürgerrechtler vor allem, wenn das Leben eines entführten Soldaten aufs Spiel gesetzt wird und wenn die Kampfhandlungen in Regionen stattfinden, in denen besonders viele Zivilisten leben, wie z.B. in Städten. In einem Offenen Brief an den israelischen Generalstaatsanwalt schreiben ACRI-Vertreter – Zitat:
Zitat
„Ein Befehl, der das Leben eines Soldaten einem nicht bekannten politischen Ziel unterordnet, dessen Inhalt und Umfang unbekannt sind, ist zynisch und abscheulich. Nicht umsonst wurde das Protokoll über die Jahre hart kritisiert, auch von höheren Beamten im Sicherheitsestablishment. Wird das Hannibal-Protokoll in bevölkerten Gegenden angewendet, kann nicht mehr zwischen Zivilisten und Kombattanten unterschieden werden. Das verursacht unnötiges Leiden. Unserer Ansicht nach ist das Hannibal-Protokoll unter diesen Umständen eine illegale Methode der Kriegsführung, die gegen das Kriegsrecht verstößt.“
Doch wie hätte die israelische Armee reagieren können und dürfen, wenn einer ihrer Soldaten entführt wird, etwa in einem Auto? Die moderate Lesart der Hannibal-Direktive besagt, dass dann auf das Fluchtfahrzeug geschossen werden darf – auch wenn dadurch das Leben des entführten Soldaten gefährdet beziehungsweise sein Tod sowie der von Unbeteiligten in Kauf genommen wird. Grundsätzlich müsse eine Armee in so einer Situation abwägen, sagt Michael Bothe, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Frankfurt:
O-Ton Bothe
„Wenn aber bei diesen gezielten Angriffen auf legitime Ziele Zivilisten getroffen werden – unvermeidlich getroffen werden – die eigentlich daran nicht beteiligt sind, dann ist das eine Frage des sogenannten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dann muss abgewogen werden: die Bedeutung des militärischen Vorteils – hier Tötung der Entführer – und der zivile Schaden. Das ist eine sehr schwierige Abwägung. Da kann man auch im Einzelnen verschiedener Meinung sein.“
Keine Frage des Völkerrechts, sondern des israelischen Rechts sei es, ob die Armee den Tod des Soldaten in Kauf nehmen darf, um seine Entführung zu verhindern, sagt Bothe weiter. Das ist natürlich vor allem in Israel umstritten. Einerseits können gelungene Entführungen Israel schwer schaden, wie der Fall Gilad Shalit zeigte: Der israelische Soldat kam 2011 erst nach jahrelangen Verhandlungen wieder frei. Israel musste dafür mehr als 1.000 palästinensische Häftlinge freilassen. Andererseits sprechen menschenrechtliche Argumente dagegen, eine Entführung mit so massiver Gewalt zu verhindern, dass dabei auch der Tod des Soldaten in Kauf genommen wird. Nach deutschem Recht wäre ein Vorgehen entsprechend der israelischen Hannibal-Direktive nicht möglich, ist sich Völkerrechtler Heintze sicher :
O-Ton Heintze
„Wenn man eine solche Situation vergleicht mit der deutschen Rechtlage, dann haben wir hier das Beispiel eines Abschusses eines Verkehrsflugzeuges, das sich in den Händen von Terroristen befindet und einem Atomkraftwerk nähert. Dann würde es nach deutschem Recht nicht zulässig sein, dieses Flugzeug abzuschießen. Warum? Weil man beim Abschuss eines solchen Flugzeuges die Menschen, die in dem Flugzeug sitzen, zu einer Sache machen würde. Man würde also nicht mehr davon ausgehen, dass es sich hier um Menschen mit einer Würde handelt, sondern man würde ausschließlich die Gefahr abwenden wollen, aber das Leben dieser Menschen opfern. Und das darf der Staat nicht.“
Es bleibt also schwierig für die Streitkräfte, auf Entführungen richtig zu reagieren, zumal in Kampfsituationen, wo schnell entschieden werden muss. Genau diese Entscheidungen sollen den israelischen Soldaten durch die Hannibal-Direktive erleichtert werden. Ob sie das jedoch leisten kann, muss unklar bleiben, solange ihr Wortlaut geheim gehalten wird. Öffentlich diskutiert werden müssen aber die Folgen, die ihre Umsetzung in dichtbevölkertem Gebiet hat. Wenn dabei massenweise unbeteiligte Zivilisten getötet werden, dann ist das ein Problem, das nicht mit Hinweisen auf die Rechtslage weggewischt werden kann.
Autor: Dirk Eckert
Quelle: http://www.ndr.de/info/sendungen/streitkraefte_und_strategien/streitkraeftesendemanuskript502.pdf
MP3: http://media.ndr.de/download/podcasts/podcast2998/AU-20141128-1332-2342.mp3