junge Welt, 03.07.2003, S. 3
Internationale Politik Wirtschaft Interview junge Welt
F: Wie weit ist die Privatisierung in Serbien-Montenegro fortgeschritten?
Wir erleben gerade die dritte Welle der Privatisierung. Die erste war 1990, als Ergebnis der ökonomischen Krise, die zweite 1997. Beide hatten fast keine Auswirkungen, nur einige wenige Firmen wurden damals privatisiert. Nach den politischen Veränderungen im Oktober 2000 hat eine neue Welle begonnen. Der Internationale Währungsfonds hat Strukturanpassungsprogramme diktiert, die auf vier Bedingungen basierten: Alle Hindernisse für den internationalen Handel und ausländische Investitionen müssen beseitigt, alle Unternehmen � einschließlich des öffentlichen Dienstes � müssen sofort privatisiert, der Arbeitsmarkt muß flexibilisiert und die Ausgaben für Soziales reduziert werden. Jetzt ist es sehr ernst: Mehr als 60 Prozent aller serbischen und montenegrinischen Unternehmen in öffentlichem Eigentum sind bereits verkauft. Bis zum Sommer 2005 soll die gesamte Privatisierung abgeschlossen sein.
F: Was bedeutet das für die Bevölkerung?
Bis jetzt belommt sie unglücklicherweise nur die negativen Auswirkungen zu spüren. Die Arbeitslosigkeit ist enorm angestiegen, im April lag sie offiziell bei 31 Prozent. Die versteckte Arbeitslosigkeit ist noch höher. Immer mehr Menschen gehen in den informellen Sektor, da die Löhne ziemlich niedrig sind. Der Durchschnittslohn liegt bei 150 Euro. Andere gehen ins Ausland, weil sie zu Hause keine Arbeit finden. Selbst die vorhandenen Jobs werden immer unsicherer. Im früheren sozialistischen System waren die Arbeitsplätze sehr sicher. Wer einmal einen hatte, konnte ziemlich sicher sein, daß er ihn erst mit der Pension wieder verläßt. Heute ist es mit dem neuen Arbeitsgesetz sehr einfach, Menschen zu feuern.
F: Wie verändert sich die soziale Lage der Frauen durch die Privatisierungspolitik?
Frauen spüren die Auswirkungen der Privatisierung mehr als alle anderen Bevölkerungsgruppen. Frauen arbeiten meistens in schlecht bezahlten Jobs und in den sozialen Diensten. Sie sind die ersten, die gefeuert werden, und die letzten, die eingestellt werden.
F: Und wer profitiert von der Privatisierung?
Eine neue etablierte Elite, die aus früherem politischen Führungspersonal besteht, den früheren Direktoren der staatseigenen Betriebe und denen, die während des Krieges große Gewinne gemacht haben und jetzt prominente Geschäftsleute sind.
F: Zeigen sich ausländische Investoren interessiert?
Sehr wenige. Viele haben noch nicht das Gefühl, daß ihr Geld in Serbien sicher ist, weil das Rechtssystem noch nicht vollständig geändert ist, und wegen der hohen Verbrechensrate und Korruption.
F: Aber die Telefongesellschaft ist doch schon in italienischer Hand?
Ja. Aber beim Verkauf ist manches nicht mit rechten Dingen zugegangen, und die Affäre ist noch nicht zu den Akten gelegt. Natürlich ist der ganze Prozeß der Privatisierung nicht transparent, deswegen ist es für uns NGO-Aktivisten und Forscher auch sehr schwer, weil wir die Wahrheit und die richtigen Daten gar nicht kennen. Wir können nur die ökonomischen Programme, Ausschreibungen und Auktionen erfassen. Aber was wirklich passiert, ist nicht durchsichtig.
F: Gibt es Opposition gegen die Privatisierung?
Die Gewerkschaften sind im Moment sehr, sehr schwach. Deshalb können sie die Interessen der Menschen kaum vertreten. Die Parteien, die gegen Privatisierung sind, sind nicht an der Macht. Die Serbische Radikale Partei und die Sozialistische Partei gehören dazu � aber meiner Meinung nach sind sie nur dagegen, weil sie die Macht verloren haben und nicht, weil sie eine andere Vision von wirtschaftlicher Entwicklung hätten.
F: Selbst die Sozialistische Partei hat keine andere Vision?
Vielleicht eine Vision, aber aus ihrem Programm kann man nicht entnehmen, wie sie wirtschaftliches Wachstum schaffen will.
Autor: Dirk Eckert