Wenn das mal Schule macht

Die Bildungspolitik steht wieder hoch im Kurs. Denn wenn die Deutschen immer dümmer werden, ist der Standort in Gefahr.

Jungle World, 26.06.2002, Nr. 27. S. 6

Jungle World

Endlich Ferien! Wer hat Schuld an der Bildungsmisere? Während konservative Politiker die Migrantenkinder für das schlechte deutsche Abschneiden bei der Pisa-Studie verantwortlich machen und mit Sprachtests und Sanktionen drohen, will die Bundesregierung mehr Ganztagsschulen errichten. Offensichtlich ist, dass das deutsche Bildungssystem die soziale Ungleichheit vergrößert.

Wenn nur 20 Prozent der Schüler in Bayern das Abitur erreichen, dann ist das nichts, worauf Herr Stoiber stolz sein könnte. Das bayerische Modell ist als bundesweites Vorbild nicht geeignet, denn wir brauchen mehr Abiturienten und mehr Studierende.« Es war der Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) vorbehalten, nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der zweiten Pisa-Studie den Gegenangriff der Sozialdemokraten zu führen. Die Studie, die am 27. Juni vollständig veröffentlicht werden soll und aus der die Stärken und Schwächen der Bildungssysteme der einzelnen Bundesländer hervorgehen, hat ein Problem für die SPD mit sich gebracht.

Denn nach den bisher bekannt gewordenen Ergebnissen liegt ausgerechnet Bayern bei der Lese- und der Mathematikkompetenz der Schüler an erster Stelle im Ländervergleich. Als einziges von allen 16 Bundesländern rangiert das von der CSU regierte Land im oberen Drittel der Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Edmund Stoiber dürfte es gefreut haben.

Die SPD bemühte sich daher, bei der Interpretation der Ergebnisse gegenzusteuern. Bayern müsse Hochschulabsolventen importieren, hieß es aus der SPD-Zentrale. In der Tat ist die Auslese in Bayern hart, nur 20 Prozent der Schüler schaffen es bis zum Abitur, weitere neun Prozent erwerben die Fachhochschulreife. Im Bundesdurchschnitt erlangen dagegen 36 Prozent die Hochschulreife, im OECD-Schnitt machen heute sogar 57 Prozent der Schüler das Abitur.

Insgesamt ist in Deutschland der Unterschied zwischen leistungsstarken und -schwachen Schülern besonders ausgeprägt. In Ländern wie Finnland, Kanada oder Südkorea gehen die Kinder, gleich welcher sozialen Herkunft, acht oder neun Jahre lang auf dieselbe Schule. Diese Bildungssysteme sind sozial durchlässiger. Das deutsche Schulsystem ist dagegen weniger in der Lage, herkunftsbedingte Nachteile auszugleichen. Deutschland steht bei der Förderung der schwächsten Schüler an allerletzter Stelle.

Das trifft schnell die Kinder, in deren Elternhaus kein Deutsch gesprochen wird. Schon werden die Migranten in der öffentlichen Diskussion zu Sündenböcken für das schlechte deutsche Abschneiden gemacht. Hessen und Hamburg wollen Zwangstests vor der Einschulung einführen; wer den Sprachtest nicht schafft, darf keine deutsche Schule besuchen. Natürlich soll das nur für die Kinder von Migranten gelten. Auch Bayern will den ausländischen Kindern einen Sprachtest abverlangen, dort sollen »Sprachlernklassen« eingeführt werden.

Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan, in Stoibers »Kompetenzteam« für Bildung zuständig, gibt sich da moderater. Sie will ein Jahr vor der Einschulung einen Sprachtest »anbieten« – »für deutsche wie ausländische Kinder gleichermaßen«. Je nach Ergebnis soll es dann »Sprachförderung« geben.

Mit Schavan hat sich Stoiber eine »bildungspolitische Überzeugungstäterin« (Die Welt) in seine Truppe geholt. Die stellvertretende CDU-Parteivorsitzende und Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) gilt als konservativ und modern zugleich. Sie steht politisch Heiner Geißler und Rita Süssmuth nahe. Für letztere rückte Schavan, die Erziehungswissenschaften, Philosophie und katholische Theologie studiert hat, 1998 ins Präsidium der CDU nach. Mit ihr hat Stoiber schon den dritten inhaltlichen Akzent gegen die FDP gesetzt. Er präsentierte Lothar Späth als designierten Wirtschaftsminister, Wolfgang Schäuble für das Außenressort und eben Schavan für die Bildungspolitik. Das sind allesamt Ressorts, die in der früheren schwarz-gelben Koalition unter Helmut Kohl die FDP innehatte.

Schavan setzte in Baden-Württemberg Akzente. Sie nahm die große Oberstufenreform von 1972 teilweise zurück, künftig gibt es im »Musterländle« fünf Pflichtfächer bis zum Abitur, das Grund- und Leistungskurssystem wird abgeschafft. Eine zu frühe Spezialisierung sei falsch, verkündete sie. Eine »Rückkehr zu Opas Gymnasium« witterte dagegen die SPD-Opposition im Stuttgarter Landtag. Nicht unoriginell, führte Schavan erstmals Fremdsprachenunterricht in der Grundschule ein. In den Koalitionsverhandlungen drückte sie das Abitur nach zwölf Jahren durch, das »Turbo-Abi«, das es ab 2005 geben soll.

Schavan befürwortet auch das Zentralabitur. »Die Qualität des Schulabschlusses darf nicht vom Bundesland abhängen, in dem man wohnt.« Auch will sie die Kinder früher einschulen und spricht vom »Irrglauben, Schule zerstöre die Kindheit«. In der Grundschule verlangt sie »mehr früh anerzogene Bereitschaft, Leistung zu erbringen«. Und immer wieder warnt sie davor, nicht die Hochbegabten zu vernachlässigen. »Benachteiligtenförderung und Begabtenförderung gehören zusammen.« Gerade zur Hochbegabtenförderung habe die SPD ein »völlig gebrochenes Verhältnis«.

Die SPD, die sich von den Reformprogrammen der siebziger Jahre längst verabschiedet hat, reagierte auf die Pisa-Studie dagegen mit Aktionismus. Flugs erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Bildung zur Chefsache und gab die erste Regierungserklärung eines Kanzlers zur Bildungspolitik ab. Bulmahn und Schröder wollen eine »nationale Kraftanstrengung« und warnen vor »Parteiengezänk« bei dem Thema. Die SPD setzt auf Ganztagsschulen und auf die Steigerung des Abiturientenanteils von einem Drittel auf 40 Prozent der Schüler.

In den kommenden Jahren will die Bundesregierung aus den Erlösen der UMTS-Lizenzen vier Milliarden Euro für zehntausend neue Ganztagsschulen aufbringen. Bisher gibt es Ganztagsunterricht nur an 2 500 der 40 000 Schulen in Deutschland. Bis 2007 wäre dann immerhin jede vierte Schule eine Ganztagsschule, ein »überfälliges pädagogisches Reformprojekt«, wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) meint. Nach jüngsten Umfragen befürworten 60 Prozent der Eltern solche Schulen.

Die von der CDU oder der CSU regierten Länder lehnten das Vorhaben anfangs ab, am 17. Juni einigten sich Bund und Länder dann doch auf einen »Aktionsrahmen für flächendeckende gemeinsame strukturelle Neuerungen in der Bildung«, der u.a. die Verbesserung der Lese-, Sprach- und Schreibkompetenz und die Förderung von Migranten zum Ziel hat. Auch hinsichtlich der Ganztagsschulen signalisierten die Unionsländer ihre Zustimmung.

Doch der Kompromiss hielt nicht lange. Schavan kritisierte das Programm als nicht ausreichend finanziert und als Eingriff in die Landespolitik. Nötig sei ein qualitativ besserer Unterricht, nicht mehr Betreuung. Schließlich lehnten die acht unionsregierten Länder das Programm in einer gemeinsamen Erklärung doch ab. Das Geld aus Berlin wollen sie »zum Ausbau der bereits in den Ländern vorhandenen Betreuungsangebote« verwenden und sich nicht in die »grundgesetzlich festgelegte Bildungshoheit« hineinreden lassen.

»Wir sind nicht käuflich in der Bildungspolitik«, hieß es etwa aus Hessen. Ministerpräsident Roland Koch (CDU) nannte die Hochbegabtenförderung, den Sprachunterricht und die bessere Ausstattung der Schulen als mögliche Verwendungszwecke. Bulmahn jedoch knüpfte die finanziellen Zuwendungen aus Berlin an »ein pädagogisches Konzept für den Ganztagsbetrieb«, da mit dem Geld nicht der »Aufbau von Schulkantinen«, sondern eine »neue Schulkultur« gefördert werden solle.

Die Gewerkschaften und die Unternehmer sehen indes die neue Bildungspolitik schon am deutschen Föderalismus scheitern. Die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange sagte, von gleichen Bildungs- und Lebenschancen könne in Deutschland »keine Rede mehr sein«. Die »Wirtschaftsjunioren Deutschland«, denen rund 11 000 Unternehmer unter 40 Jahren angehören, sind ebenfalls gegen die Länderhoheit bei der Bildung: »Im Zeitalter der Globalisierung ist es fatal, keine einheitlichen Leistungsstandards in Schulen zu haben. Mobilität und Flexibilität unserer Arbeitnehmer sind damit extrem eingeschränkt.«

Selbst in der PDS sieht man die Gefahr für den Standort. Die bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Monika Böttcher, kritisierte das deutsche Schulsystem: »Es ist im Interesse des Kapitals ineffektiv, produziert nicht genug Qualität und ist hoch risikobehaftet, weil es sozialen Sprengstoff erzeugt.«


Autor: Dirk Eckert