Thema Abrüstung: Große Gefahr durch Mini-Nukes

ND-Gespräch mit dem Atomwaffenexperten Oliver Meier vom Londoner Forschungsinstitut Vertic

Neues Deutschland, 20.04.2002, S. 10

Interview Neues Deutschland

Steht die Welt vor einem neuen nuklearen Wettrüsten? Oder bringt der bevorstehende Gipfel zwischen Bush und Putin einen Abrüstungsschub? ND befragte Oliver Meier, Autor des Buches »Wettlauf ohne Gegner? Die amerikanische Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konfikts«. Mit dem Leiter des Programms zur Überprüfung von Rüstungskontrollabkommen beim unabhängigen Londoner Forschungsinstitut Vertic (http://www.vertic.org) sprach Dirk Eckert.

ND: Hat die unlängst erschienene Nuclear Posture Review der USA – in der der Einsatz kleiner Atombomben, so genannter Mini-Nukes, gegen »Schurkenstaaten«, aber auch gegen Russland und China erwogen wird – eine neue atomare Ära eingeleitet?

Oliver Meier: Viele Linien aus diesem Pentagon-Geheimbericht wurden schon Anfang der 90er Jahre angelegt. Schon damals wurde darüber nachgedacht, wie man Atomwaffen unter veränderten internationalen Bedingungen einsetzen kann und wie weit dabei Abrüstung und Rüstungskontrolle gehen soll.

ND: Mit welchem Ergebnis?

Oliver Meier: Das Problem war, dass die strategischen Atomwaffen der USA fast ausschließlich auf Russland ausgerichtet waren. Dieser Bezugsrahmen fiel plötzlich weg. Washington saß auf einem riesigen Arsenal, dessen Zweck nicht mehr ganz klar war. Dann kam der Krieg gegen Irak. Teile des nuklearen Establishments propagierten nun, Kernwaffen auch gegen »Schurkenstaaten« einzusetzen. Dafür müssten aber auch neue Modelle mit geringerer Sprengkraft entwickelt werden, um etwa Führer wie Saddam Hussein zu treffen, die tief unter der Erde verbunkert und somit unerreichbar für US-amerikanische Atomwaffen säßen. Deshalb sollten »earth penetrators«, sollten Mini-Nukes gebaut werden, um Leute wie Saddam effektiv abschrecken zu können.

ND: Von wem kamen diese Überlegungen?

Oliver Meier: Unter anderem aus den Atomwaffenlaboratorien. Doch der USA-Kongress verabschiedete 1994 ein Gesetz, das ihnen explizit verbietet, Sprengköpfe zu entwickeln, die eine Sprengkraft von weniger als fünf Kilotonnen haben. Die Hiroshima- Bombe hatte ungefähr 15 Kilotonnen. Der Kongress zog politisch die Grenze, weil er wusste, dass es Bestrebungen gab, solche Waffen zu entwickeln. Dieses Gesetz hat übrigens noch immer Gültigkeit. Doch zeigt die Nuclear Posture Review, dass die Bemühungen um atomare Mini-Raketen jetzt auch Bushs Unterstützung findet.

ND: Ist der Pentagon-Bericht dann ein Verstoß gegen Kongress-Beschlüsse?

Oliver Meier: Nein. Er befürwortet nur, dass weitergehende Forschung als bisher betrieben wird, aber nicht, dass solche Waffen auch tatsächlich produziert werden. Alle Projekte sollen im Forschungs- und Entwicklungsstadium bleiben, das ist nach dem Gesetz erlaubt. Nicht erlaubt ist, solche Waffen auch nur als Prototypen zu produzieren. Noch hat die Bush-Administration das 94er Gesetz nicht aufgehoben.

ND: Aber im Vorwort schreibt Pentagon-Chef Donald Rumsfeld, dass jetzt »offensive strike systems« aufgebaut werden sollen, nukleare und nicht nukleare. Das ist doch deutlich.

Oliver Meier: Rumsfeld und die Nuclear Posture Review sagen, dass die USA ihre offensiven Fähigkeiten beibehalten und möglicherweise ausbauen sollen. Mehr glücklicherweise noch nicht.

ND: Die USA verfügen doch schon seit 1997 mit der B61-11 Bombe über Mini-Nukes, zumindest im Prototyp.

Oliver Meier: B61-11 ist eine Modifikation einer Waffe, die sich schon lange im Arsenal der USA befindet. Bei der B61 handelt es sich um eine luftgestützte Bombe, die übrigens noch immer in Deutschland stationiert wird, soweit wir wissen. Man hat diese B61 nun so verändert, dass sie in der Lage ist, vor der Explosion in den Erdboden einzudringen und unterirdische Ziele zu zerstören. Die USA bestehen aber darauf, dass das keine neuartige Waffe ist. Denn der Sprengkopf ist mehr oder weniger unverändert geblieben. Die Nuclear Posture Review sagt auch explizit, dass die Fähigkeiten dieser B61-11 nicht ausreichend seien. Wollte man wirklich tief unter der Erde gelegene und stark verbunkerte Ziele, etwa in Irak, zerstören, dann müsste da waffentechnisch nachgelegt werden.

ND: Wozu brauchen die USA neue offensive nukleare Fähigkeiten?

Oliver Meier: Neben den Schurkenstaaten gibt es noch die – allerdings sehr diffuse – Begründung, man müsse sich rüsten gegen eine Verschlechterung der internationalen Beziehungen. Man müsse flexibel sein, falls etwa die russische Führung den USA nicht mehr partnerschaftlich gegenüber tritt. Atomwaffen sollen nun in Reserve gehalten werden, so dass schnelle Aufrüstung möglich ist, wenn die internationale Lage sich ändert. Deshalb will die Bush-Administration bei neuen Rüstungskontrollvereinbarungen mit Russland die Atomsprengköpfe nicht mehr vernichten.

ND: Tritt sie damit einen neuen Rüstungswettlauf los?

Oliver Meier: Das wird man sehen. Im Moment fehlt der Partner für einen solchen Wettlauf. Die USA sind in jedem militärischen Bereich allen überlegen. Aber natürlich ist zu befürchten, dass Staaten versuchen werden nachzuziehen. Auch wenn Russland dazu ökonomisch im Moment nicht in der Lage ist, wohl auch nicht in absehbarer Zeit. Peking hat verschiedentlich deutlich Sorge geäußert über die USA-Rüstungsprogramme im Weltraum und über den Aufbau eines Raketenabwehrsystems. Chinesische Rüstungsanstrengungen aber hätten Auswirkungen auf das indische Nuklearprogramm. Das wiederum würde die pakistanischen Bemühungen anheizen, so dass wir eine Art Dominoeffekt
befürchten müssen.

ND: Und die Auswirkungen auf die Rüstungskontrollvereinbarungen zwischen den USA und Russland? Die Zahl der Atomsprengköpfe soll ja um zwei Drittel gesenkt werden.

Oliver Meier: Die Bush-Administration will eigentlich nicht mehr an internationale Rüstungskontrollabkommen gebunden sein. Es gibt da drei große Fragezeichen: Wie rechtsverbindlich werden die Vereinbarungen sein? Bisher ist offen, ob beim Gipfel Bush-Putin im Mai ein Vertrag unterschrieben wird, der dann auch durch die Parlamente ratifiziert werden muss. Zweitens haben die USA deutlich gemacht, dass sie kein Interesse haben, die Umsetzung eines Abkommens verifizieren zu lassen. Was seinen Wert natürlich in Frage stellt. Zum Dritten will Washington die Sprengköpfe nicht vernichten, sondern lagern, um sie dann im Ernstfall wieder zu stationieren.

ND: Inwieweit gefährdet die Nuclear Posture Review auch den Atomwaffensperrvertrag?

Oliver Meier: John Bolton, Staatssekretär für Rüstungskontrolle im USA-Außenministerium, hat unlängst mit Blick auf die verbindliche Zusage, Nicht-Atomwaffen-Staaten nicht nuklear anzugreifen, davon gesprochen, dass solche rhetorischen Bekenntnisse nicht mehr so relevant seien. Diese Aussage ist später vom Weißen Haus korrigiert worden. Aber man kann doch vermuten, dass die Bedeutung derartiger Sicherheitsgarantien in Washington neu überdacht wird. Das würde in der Tat den Sperrvertrag unterminieren, in dessen Rahmen alle Atomwaffenstaaten eine politische Erklärung abgegeben haben, wonach sie ihre Kernwaffen nicht gegen Nicht-Atomwaffenstaaten einsetzen.

ND: Der Vertrag verpflichtet auch zur nuklearen Abrüstung. Die Entwicklung neuer Waffen läuft dem also völlig zuwider.

Oliver Meier: Richtig. Das ist eindeutig eine Verletzung der Verpflichtung, die jetzt auch bei einem Treffen der Vertragspartner in New York diskutiert wurde. Denn das Ziel der Review ist eben nicht, Atomwaffen abzuschaffen. Vielmehr sollen die Arsenale angepasst und zukunftsfähig gehalten werden. Washington zieht sich generell immer häufiger aus internationalen Verpflichtungen zurück. Im nuklearen Bereich ist hier vor allem auch der Teststopp-Vertrag zu nennen. Die Bush-Administration ist gegen seine Ratifizierung. Aber ohne die USA kann dieser Vertrag nicht in Kraft treten. Der Präsident hat zudem angekündigt, auch aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr auszusteigen. Und im Bereich der biologischen Waffen haben die USA das Zusatzprotokoll für einen Überprüfungsmechanismus, das seit zehn Jahren in Genf verhandelt wird, in letzter Minute zum Scheitern gebracht und die Überprüfungskonferenz torpediert.


Autor: Dirk Eckert