“Jeder muss sich mit dem Holocaust beschäftigen”

In der Türkei, aber auch in den türkischen Communities in Deutschland nimmt der Antisemitismus zu, warnt Dogan Akhanli vom "Kölner Appell gegen Rassismus". Eine Diskussion darüber finde nicht statt. Das will die Initiative mit einer Tagung ändern. Am Wochenende findet sie in Köln statt

taz nrw, 16.11.2006, S. 4

Interview taz nrw

taz: Herr Akhanli, der “Kölner Appell gegen Rassismus” will am Wochenende auf einer Tagung den “Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft” thematisieren. Was ist damit gemeint: Antisemitismus gegenüber jüdischen Einwanderern oder generell unter Einwanderern?

Dogan Akhanli: Unter Einwanderern. Wir wollen aber nicht, dass das gegen Einwanderer benutzt wird. Uns geht es um das Problem Antisemitismus, hauptsächlich unter türkischen Migranten und in der Türkei.

taz: Warum?

Dogan Akhanli: Weil der Großteil der Migranten in Deutschland nun mal türkischer Herkunft ist. Heute wird der Antisemitismus in der Türkei wieder schlimmer. Das wirkt sich auch auf die Leute aus, die hier in Deutschland leben.

taz: Der Kölner Appell macht viele Projekte mit und für Migranten. Wie verbreitet ist denn Antisemitismus unter Menschen türkischer Herkunft?

Dogan Akhanli: Das ist schwer zu beziffern. Aber wir beobachten ganz allgemein, dass Antisemitismus wieder wächst, in der türkischen Presse zum Beispiel, die ja auch hier gelesen wird. Im Moment wird der Genozid an den Armeniern diskutiert. Da gibt es Leute, die leugnen den Genozid zwar nicht, versuchen aber, die Verantwortung dafür an die Juden weiterzugeben. Mit der Behauptung, dass die Jungtürken eigentlich Juden seien. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Andere versuchen, bestimmte Persönlichkeiten aufgrund ihrer Namen als Juden zu diffamieren. Wenn ein Name mit der Vorsilbe “Er” beginnt, sei jemand Jude, heißt es dann. Von Erdogan, dem türkischen Ministerpräsidenten, wird das etwa behauptet.

taz: Sie selbst machen Führungen auf Türkisch durch das Kölner NS-Dokumentationszentrum, die ehemalige Gestapo-Zentrale der Stadt. Gab es dabei auch antisemitische Vorfälle?

Dogan Akhanli: Ja, dort bekomme ich öfters die Frage zu hören, was denn die Juden gemacht haben. Wenn jemand diese Frage am Anfang stellt, kann ich das noch verstehen. Dann hat derjenige offenbar wirklich nicht genügend historische Kenntnisse. Aber wenn jemand nach der Führung noch so fragt, hat das immer den Unterton: Vielleicht hatten die Deutschen doch Recht.

taz: Wie wirkt sich der Israel-Palästina-Konflikt auf den Antisemitismus aus?

Dogan Akhanli: Der Konflikt macht es unmöglich, in der türkischen Community auch nur eine Diskussion zu führen. Es ist sogar einfacher, über den Genozid an den Armeniern zu reden als über Antisemitismus. Wir haben in Köln eine Veranstaltung gemacht mit einem Autor aus der Türkei, der über den dortigen Antisemitismus geschichtlich geforscht hat. Veranstalter war der Menschenrechtsverein Türkei-Deutschland. Nach dem Vortrag sind einige aus Protest aus dem Verein ausgetreten. Ihr Vorwurf: Während Israel die Mauer baut, machen wir eine Veranstaltung, die den Juden nützt.

taz: Haben die Konservativen also Recht: Die Einwanderungsgesellschaft ist keine Multi-Kulti-Idylle?

Dogan Akhanli: Man muss die Einwanderungsgesellschaft ja nicht künstlich niedlich machen. Aber ich finde trotzdem, dass sie eine der besten Gesellschaftsformen ist. Man kann mit- und voneinander viel lernen. Und man muss aufhören, bestehende Probleme ausschließlich bestimmten Gruppen zuzuschreiben. In Deutschland wird leicht diskutiert über “die” Deutschen oder “die” Türken.

taz: Das tun Sie auch. Sie reden über die türkischen Migranten.

Dogan Akhanli: Nein, wir reden über Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Und darüber, wie die politisch-historische Bildung weiter gehen soll. Der Holocaust ist Teil der Menschheitsgeschichte, seine Aufarbeitung darf nicht innerhalb der deutschen Grenzen bleiben. Jeder muss sich damit beschäftigen, nicht als Deutscher oder als Türke, sondern als Mensch.

DOGAN AKHANLI, 49, ist Schriftsteller (“Die Richter des jüngsten Tages”) und leitet das Projekt “Erinnerung und Geschichte” des “Kölner Appell gegen Rassismus”. Der gebürtige Türke lebt seit 1991 in Deutschland.


Autor: DIRK ECKERT