taz köln, 14.11.2002, Nr. 117, S. 8
Geschichte / Archäologie Innenpolitik Köln Rezension taz köln
Wanda Ü. wollte sich nur über Jungenstreiche beschweren. Nachdem Hitlerjungen aus dem benachbarten HJ-Heim sie und ihre Familie ständig gestört hatten, rief sie am 16. Juni 1937 den zuständigen Fähnleinführer Gustav G. zu sich in den Brücker Mauspfad 646 im Kölner Stadtteil Brück. Die Szene eskalierte, sie nannte die Hitlerjungen „Drecksäcke“. Als G. ihr vorwarf, ihr Mann Emil würde nie den Hitlergruß erwidern, bestätigte sie, dass ihre Familie nicht mit „Heil Hitler“ grüßen wolle. Emil setzte später noch eins drauf: die NSDAP sei ein Club von Zuhältern und Sittlichkeitsverbrechern.
Die HJ erstatte Anzeige. Was dann passierte, zeigt, wie einzelne Menschen in die Räder der NS-Justiz gelangen konnten. Nach der Anzeige folgten Verhaftungen, schließlich wurden Wanda und Emil für schizophren erklärt und in eine Anstalt gebracht. Diese Einweisung endete für Emil Ü. tödlich: 1940 wurde er im Zuge der „Euthanasie“ umgebracht, Wanda ein Jahr später entlassen. Vom Tod ihres Mannes erfuhr sie erst nach dem Krieg und nur aufgrund eigener Nachforschungen.
Fälle wie diesen hat die Werkstatt für Ortsgeschichte Köln-Brück in ihrem neuen Buch „Gegen das Vergessen. Brück im Nationalsozialismus“ zusammengetragen. „Der Nationalsozialismus war viel mehr in einzelne Alltagsbereiche eingedrungen, als wir gedacht hatten“, fasst Fritz Bilz von der Geschichtswerkstatt das Ergebnis der Forschungen zusammen. So seien in dem 3000-Seelen-Ort über 100 Zwangsarbeiter gewesen. „Jeder Bauer hatte einen. Die Knechte waren ja im Krieg, um Europa zu überfallen.“
Vor zehn Jahren hat die Werkstatt für Ortsgeschichte Köln-Brück ihr erstes Buch über die „braune Zeit“ des Kölner Stadtteils herausgebracht. Seitdem haben die Ortshistoriker Zeitzeugeninterviews gemacht, in Archiven geforscht und sind Hinweisen aus der Bevölkerung nachgegangen. Außerdem gründete sich als eine Art Gegenverein der Heimat- und Geschichtsvereins „Unser Brück“, der „saubere“ und „von jeglicher Ideologie freie“ Geschichtsschreibung betreiben will. „Wir begrüßen dies ausdrücklich, kann sich doch jetzt die Brücker Bevölkerung ein noch genaueres Bild über die verschiedenen Sichtweisen von Ortsgeschichte machen“, kommentiert die Geschichtswerkstatt doppeldeutig.
Bilz freut sich sogar über die Konkurrenz. „Gegner wie Befürworter haben unser erstes Buch gekauft.“ Gegenkultur, Geschichte von unten und Geschichte der kleinen Leute – darauf wolle die Geschichtswerkstatt auch weiterhin setzen. „Wir müssen jetzt eben zeigen, dass wir besser sind“, sagt Bilz.
Mit dem neuen Buch ist die Werkstatt für Ortsgeschichte auf dem besten Weg dorthin. Das Buch enhält detaillierte Recherchen, Personenporträts, zahlreiche Original-Fotos sowie Luftaufnahmen, die den Ortsunkundigen das Verständnis erleichtern. Die Themenschwerpunkte sind Zwangsarbeit, Sondergerichte, Jugend und auch die Geschichte der Brücker Juden.
Die ist vergleichsweise glimpflich verlaufen. Die Familien waren alle „Mischehen“, so dass die Juden bis 1943 relativ sicher waren. Ab August 1944 sollten jedoch auch sie deportiert werden, doch sie entzogen sich den Konzentrationslagern durch Flucht und Untertauchen. Wie die Jüdin Hertha Olbertz, die mit ihrer Tochter in Brück versteckt wurde. Ein Nachbar hatte sie gewarnt, sich nicht bei der Sammelstelle nahe dem Müngersdorfer Stadion zu melden: „Geh da um Gottes Willen nicht hin.“
„Gegen das Vergessen. Brück im Nationalsozialismus“, Herausgeber: Werkstatt für Ortsgeschichte Köln-Brück, http://www.geschichtswerkstatt-koeln-brueck.de . 13 Euro
Das Buch wird heute, 20 Uhr, im evangelischen Gemeindesaal Brück, Am Schildchen 1, der Öffentlichkeit vorgestellt. Für Musik sorgt Rolly Brings.
Autor: Dirk Eckert