O mein Herr, mir ist Gefängnis lieber als das, wozu sie mich einladen

In einem Projekt der Harvard Law School ist jetzt erstmals dokumentiert worden, welche und wie viele Seiten des Internet in Saudi-Arabien nicht zu sehen sind

Telepolis, 04.09.2002, http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/13186/1.html

Telepolis

Im Königreich Saudi-Arabien ist das Internet nicht frei zugänglich. Seiten mit pornographischen Inhalten, zu Drogen, Alkohol, Bomben und Glücksspielen sowie Seiten, die „die islamische Religion oder die saudischen Gesetze und Verordnungen verletzen“, werden dort gesperrt. Verantwortlich hierfür ist die Internet Services Unit (ISU), eine Abteilung der King Abdulaziz City for Science & Technology (KACST), die in der Hauptstadt Riad einen Proxy betreibt, an den alle Provider des Landes angeschlossen sind. Sämtliche Datenströme, die in das Königreich fließen und wieder hinaus, laufen über diese eine Schaltstelle.

In einem Projekt der Harvard Law School ist jetzt erstmals dokumentiert worden, welche und wie viele Seiten des Internet in Saudi-Arabien nicht zu sehen sind. Von 64.557 getesteten Seiten waren 2038 in Saudi-Arabien gesperrt. Jonathan Zittrain und Benjamin Edelman vom Berkman Center for Internet and Society der Harvard-Universität haben sich für die Untersuchung mit Zustimmung der ISU in das saudi-arabische Internet eingeloggt. Aus ihrer Untersuchung folgern sie, dass die saudische Regierung ein „aktives Interesse“ daran hat, Seiten zu filtern, die explizit nichts mit Sexualität zu tun haben.

Zensiert werden etwa Inhalte aus den Bereichen Religion, Gesundheit, Bildung, Humor und Unterhaltung. Unter den gesperrten Seiten sind die Internetauftritte des Magazins „Rolling Stone“, des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam, Warner Brothers Records, die Hisbollah, die israelische Armee sowie die Web-Seiten von amnesty international zu Saudi-Arabien. Auch 246 Seiten, die Yahoo in der Sparte Religion aufführt, sind in Saudi-Arabien nicht erreichbar: Im Einzelnen sind es in der Kategorie Christentum 67 Seiten, in der Kategorie Islam 45, bei Heidentum 22, bei Judentum 20 und bei Hinduismus 12.

Reagiert hat die ISU bisher nicht auf die Untersuchung bzw. die Vorwürfe aus Harvard. Kein Wunder, ist doch die Existenz des Filtersystems längst bekannt und oft kritisiert worden, etwa in einem Bericht von Human Rights Watch zur Zensur des Internets im Nahen Osten aus dem Jahr 1999. „Sie sind völlig offen mit dem, was sie tun und warum“, berichtete Jonathan Zittrain gegenüber dem „Boston Globe“.

„Ich denke nicht, dass sie meinen, es müsste ihnen peinlich sein. Vielleicht denken sie jetzt anders, wo unsere Studie veröffentlicht ist.“

Doch das ist zu bezweifeln, denn die Herrscher zwischen Rotem Meer und Persischem Golf sind sogar stolz auf ihr System. Die ISU preist das Verfahren auf der eigenen Homepage an, informiert die Nutzer bereitwillig über die Vor- und Nachteile des Verfahrens und rechtfertigt die Zensur u.a. mit Versen aus dem Koran:

„O mein Herr, mir ist Gefängnis lieber als das, wozu sie mich einladen; und wenn Du nicht ihre List von mir abwendest, so könnte ich mich ihnen zuneigen und der Törichten einer sein. Also erhörte ihn sein Herr und wendete ihre List von ihm ab“

, heißt es bei Josef (12), Vers 33-34.

Dass ein Koran-Zitat herangezogen wird, um das Verhältnis zum Internet zu bestimmen, ist für Heinz Grotzfeld, Professor an der Universität Münster, nicht überraschend. Im Islam würde in solchen Fällen oft nach Parallelstellen gesucht, erläutert er. Die Auslegung des Koran sei in Saudi-Arabien bekanntermaßen „äußerlich und wörtlich“. Das theologische Problem, ob sich der Gläubige der Versuchung zu stellen hat oder besser im Gefängnis – und damit geschützt vor der Versuchung – zu leben hat, sei auch im Christentum nicht endgültig geklärt, gibt der Islamwissenschaftler zu bedenken. Allerdings würden christliche Intellektuelle es in ihrer Mehrzahl für besser halten, sich der Versuchung zu stellen.

Auch wissenschaftliche Erkenntnisse führt die ISU an. Hier stellt sich das Land, in dem Frauen massiv diskriminiert werden, als Vorkämpfer gegen Männergewalt dar: Eine Studie von Cass Sunstein im „Duke Law Journal“ habe gezeigt, dass bei strengen Gesetzen gegen Pornographie die Zahl der Vergewaltigungen zurückgehe. Und: Die US-Staaten Alaska und Nevada wären die beiden Bundesstaaten mit dem meisten pornographischen Material. Dort sei die Zahl der Vergewaltigungen bis zu acht Mal so hoch wie andernorts.

Internetanschlüsse für Universitäten und Forschungseinrichtungen gibt es in Saudi-Arabien seit 1994. 1999 wurden dann die ersten Provider zugelassen. Dabei kann jeder auf den Seiten der ISU Domain-Namen zur Sperrung empfehlen bzw. beantragen, bestehende Sperrungen wieder aufzuheben. Letzteres geht freilich nur mit freiem Zugang zum Netz – hier ist das System in sich widersprüchlich. Tatsächlich kann jeder, der sich die teureren Einwahlgebühren leisten kann oder will, über ausländische Provider ins Netz gehen und dort die verbotenen Seiten einsehen.

An der Entwicklung des Internets in Saudi-Arabien waren auch deutsche Wissenschaftler und Programmierer beteiligt. Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und das Rechenzentrum der Universität Mannheim (RUM) gewannen 1997 eine entsprechende saudische Ausschreibung. Diplom-Ingenieur Franz-Josef Jochem von der Universität Mannheim räumt denn auch ein, dass die technischen Einrichtungen für die Seiten-Sperrung von den Deutschen installiert wurden. Das sei eine „Frage der Abwägung“ gewesen, die auch unter den Wissenschaftler viel diskutiert worden sei, sagt er. Letztlich habe aber die Aussicht auf eine Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten überwogen, sagt Jochem. Er ist sich sicher: „Informationen lassen sich nicht aufhalten.“

Die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) lobt die Einführung des Internet in Saudi-Arabien als „gewaltigen Schritt“ nach vorne. Erstmals hätten die Bürger Zugriff auf Informationen aus aller Welt, argumentiert ein Mitarbeiter. Tatsächlich, das ergab auch die Harvard-Studie, können die Saudis unzensiert durch die CNN-Seiten surfen. Der Zensur gibt der GTZ-Mitarbeiter wenig Chancen: „Die Inhalte im Netz ändern sich zu schnell“. Und was das Blockieren einzelner Seiten betrifft: Das werde in anderen Ländern, darunter Deutschland, ebenso praktiziert. Auch dort sperrten Provider Seiten mit pornographischen oder antisemitischen Inhalten. „In Saudi-Arabien wird das exzessiver betrieben. Es ist aber nicht einzigartig.“

Dass Seiten mit antisemitischen Inhalten in Saudi-Arabien gefiltert werden, hat die Harvard-Studie indes nicht ergeben. Die Gefahr, die Jonathan Zittrain sieht, ist, dass das Internet von einem globalen und grenzenlosen Netzwerk in viele verschiedene nationale Netze verwandelt wird. Jedenfalls, wenn das saudische Beispiel Schule macht.


Autor: Dirk Eckert