Report der Winograd-Kommission – Die Versäumnisse der israelischen Führung während des Libanon-Krieges

Streitkräfte und Strategien (NDR Info), 09.02.2008

NDR Radio

Nordisrael im Juli 2006: An der Grenze zum Libanon tötet die Hisbollah acht israelische Soldaten, zwei werden entführt. Die israelische Regierung reagiert schnell. Am 12. Juli beginnt sie einen Krieg gegen den Libanon. Israelische Kampfflugzeuge greifen Stellungen der Hisbollah an, zerstören aber auch die Infrastruktur des Libanon. Straßen, Brücken, Elektrizitätswerke und vieles mehr werden getroffen. Wenige Tage vor Ende des Krieges startet die Armee noch eine Groß-Offensive im Süd-Libanon. Insgesamt sterben auf libanesischer Seite etwa 950 Zivilisten und 250 Kämpfer der Hisbollah. Viele Menschen sind auf der Flucht. Die Hisbollah beschießt ihrerseits Israel mit fast 4.000 Katjuscha-Raketen, viele Israelis flüchten vorübergehend aus dem Nordteil des Landes. Die Hisbollah tötet 119 israelische Soldaten und 44 Zivilisten.

Nach 33 Tagen ist der Krieg zu Ende. Gemäß der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrates rückt eine internationale Schutztruppe in den Südlibanon ein. Schnell stellt sich nicht nur in Israel das Gefühl ein: Israel hat den Krieg im Grunde genommen verloren. Das Ziel, die Hisbollah zu vernichten, konnte auch mit überlegener Militärmacht nicht erreicht werden. Das Schicksal der verschleppten israelischen Soldaten Eldad Regev und Ehud Goldwasser ist bis heute ungewiss. Zudem war Israel wehrlos den Raketen der Hisbollah ausgesetzt. Die Stimmung in Israel kippte: Hatte die Öffentlichkeit den Krieg zuerst fast einhellig unterstützt, kam jetzt massiv Kritik aus allen politischen Richtungen.

Die israelischen Streitkräfte haben unmittelbar nach dem Krieg Konsequenzen aus dem Libanon-Debakel gezogen. Armeeintern wurden 73 Untersuchungsgruppen gebildet. Ihre Aufgabe war es, die Struktur der Streitkräfte zu untersuchen sowie die Arbeit des Generalstabs und der verschiedenen Truppenteile und Kommandos vor Ort zu bewerten. Ihre Empfehlungen sind nach Armeeangaben inzwischen in weiten Teilen umgesetzt. So wurden die Einsatzregeln so überarbeitet, dass die verschiedenen Truppengattungen jetzt im Training wie auch im Einsatz besser zusammenarbeiten. Die Bodentruppen sollen ihre Beweglichkeit verbessern. Außerdem müssen Soldaten und Reservisten häufiger als bisher gemeinsam üben. Kampftruppen bekommen nach den Änderungen ein besonderes Trainingsprogramm. Insgesamt sei die Zahl der Übungen bei allen Bodentruppen im Schnitt seit 2006 um 80 Prozent gestiegen. Zudem wurde eine Abteilung eingerichtet, die Geheimdienstinformationen an die kämpfenden Einheiten weitergibt. Während der Untersuchungen hatten sich Kommandeure immer wieder beschwert, sie hätten nicht über die benötigten Aufklärungsergebnisse verfügt. Außerdem arbeitet Israel an einem Raketenabwehrsystem, mit dem Raketen kürzerer Reichweite vom Typ Katjuscha abgefangen werden können.

Auch die israelische Regierung sah sich im September 2006 angesichts wachsender Kritik gezwungen, eine Untersuchungskommission einzusetzen. Unter dem Vorsitz von Eliyahu Winograd, einem früheren Richter am Obersten Gericht, sah die Kommission Regierungsunterlagen ein. Nach etwas mehr als einem halben Jahr, am 30. April 2007, legte sie einen Zwischenbericht vor, der für die Regierung vernichtend ausfiel. Die Regierung habe bei ihrer Entscheidung zum Krieg andere Optionen nicht bedacht, kritisierte die Kommission. Auch die Folgen eines Angriffs hätten den verantwortlichen Politikern und Militärs klar sein müssen.

Verantwortlich waren laut Kommission Ministerpräsident Ehud Olmert, Verteidigungsminister Amir Peretz und Generalstabschef Dan Halutz. Den Militärs warf die Kommission vor, die Regierung nicht ausreichend informiert zu haben. Verteidigungsminister Peretz wiederum sei in seinem Amt schlicht überfordert gewesen und habe nicht mal verstanden, dass militärische Macht zur Erreichung politischer und diplomatischer Ziele eingesetzt werden müsse. Nach dieser harschen Kritik trat Verteidigungsminister Amir Peretz zurück. Generalstabschef Halutz war schon vor Veröffentlichung des Zwischenberichts abgetreten.

Deswegen wurde mit großer Spannung der Abschlussbericht der Winograd-Kommission erwartet. In der Öffentlichkeit hatte sich die Kritik zuletzt ganz auf die Person von Ehud Olmert und die Schlussoffensive während des Krieges konzentriert. Die Offensive wird in Israel besonders kritisch beurteilt, weil sie erst gestartet wurde, als das Ende des Krieges schon absehbar war und besonders hohe Verluste forderte. So starben in den letzten 60 Stunden des Krieges mehr als 30 Soldaten. Politiker aus dem gesamten politischen Spek-trum forderten deswegen den Rücktritt von Olmert. Auch Reservisten schlossen sich dem an.

In ihrem Abschlussbericht vom 30. Januar kritisierte die Winograd-Kommission erneut die Regierung. So habe schon die Entscheidung zum Krieg den Handlungsspielraum Israels drastisch eingeschränkt. Möglich seien danach nur zwei Optionen gewesen. Erstens: ein kurzer, schwerer, schmerzhafter und unerwarteter Schlag gegen die Hisbollah. Oder zweitens: ein breit angelegter Krieg mit Bodentruppen. Das hätte auch eine vorübergehende Besatzung des Süd-Libanon eingeschlossen. Regierung und Militärs hätten sich für keine der beiden Optionen entschieden, kritisiert die Winograd-Kommission, und damit dem Land schweren Schaden zugefügt. Insgesamt sei der Krieg eine „verpasste Chance“ gewesen.

Kritisch geht die Winograd-Kommission auch mit den Teilstreitkräften ins Gericht. Der Armee wird generell schweres Versagen vorgeworfen. Eine Korvette der Marine wurde durch einen Marschflugkörper schwer beschädigt. Die Seestreitkräfte hätten aber immerhin zur Seeblockade beigetragen. Die Luftwaffe könne für ihre – so wörtlich – „beeindruckenden Erfolge“ beglückwünscht werden, schreibt die Winograd-Kommission. Insgesamt müsse die Art und Weise verbessert werden, wie die verschiedenen Entscheidungsebenen in Regierung und Militär zusammenarbeiten.

In der Frage der umstrittenen Bodenoffensive unterstützte die Winograd-Kommission ausdrücklich das Verhalten von Ministerpräsident Ehud Olmert. Die Schlussoffensive sei legitim und „fast unvermeidbar“ gewesen, um „politische und militärische Flexibilität“ zu erreichen, urteilt der ehemalige Richter Winograd. Olmert sieht sich jetzt entlastet. Und Verteidigungsminister Ehud Barak will nun doch im Amt bleiben. Nach dem Zwischenbericht der Winograd-Kommission hatte er noch angekündigt, er werde nach Vorlage des Abschlussberichtes mit seiner Arbeits-Partei die Regierung verlassen.

Personelle Konsequenzen aus dem Libanon-Krieg sind also wahrscheinlich nicht mehr zu erwarten. Zu befürchten ist, dass die Aufarbeitung des Libanon-Krieges in Israel damit vorbei ist. Amnesty International kritisierte treffend, der Bericht gehe nicht auf mögliche israelische Kriegsverbrechen ein oder die Zerstörung der libanesischen Infrastruktur durch die israelische Luftwaffe. Auch ein außenpolitischer Kurswechsel ist nicht zu erwarten: Zwar mahnt die Winograd-Kommission, Israel müsse für Frieden notwendige Kompromisse eingehen. Zugleich schreibt sie aber auch, solche Vereinbarungen dürften nur auf der Grundlage von militärischer Macht und nationaler Stärke getroffen werden. Damit würde genau jene Politik der Stärke fortgesetzt, die Israel erst in den Libanon-Krieg getrieben hat. Der pro-westliche libanesische Ministerpräsident Fuad Siniora kommentierte es so:

Zitat:

„Der Bericht ruft zur Vorbereitung des nächsten Krieges auf, was zeigt, dass Israel nichts aus seiner Niederlage gelernt hat.“

Vieles spricht dafür, dass der Libanonfeldzug nicht der letzte Krieg in der Region gewesen sein wird.


Autor: Dirk Eckert

MP3: http://195.185.185.83/ndr/mp3/podcast/ndrinfo_streitkraefteundstrategien/20080209_ndrinfo_streitkraefte.mp3