Fakten wider Legenden

FU-Projekt: Datenbank über NS-Juristen

Neues Deutschland, 07.01.2003,

Neues Deutschland

Es war eine kurze Amtszeit: Am 30. März 1962 wurde Wolfgang Fränkel Generalbundesanwalt, am 11. Juli 1962 schlug das Kabinett in Bonn dem Bundespräsidenten vor, Fränkel aus politischen Gründen in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Der Grund für schnelle Entlassung war belastendes Material über Fränkels Tätigkeit im »Dritten Reich« beim Reichsgericht in Leipzig, das DDR-Staatsanwälte vorgelegt hatten. Demnach hatte Fränkel z.B. Nichtigkeitsbeschwerden ausgearbeitet, mit denen Freiheitsstrafen in Todesstrafen umgewandelt wurden. Auch an der Ablehnung von Anträgen auf Aufhebung der Todesstrafe war er beteiligt. Die BRD bedankte sich nicht für die Hinweise aus der DDR, die einem NS-Juristen wenigstens ein unrühmliches Karriereende brachten. Stattdessen warf Staatssekretär Karl-Günther von Hase der DDR vor, »politisch-propagandistische Erfolge durch die Benutzung der Akten aus der NS-Zeit erzielen zu wollen, und verstieg sich zu der Behauptung: »Gerade die Rechtsprechung in der SBZ ist eine noch schlechtere als die Rechtsprechung im ›Dritten Reich‹.«

Dass ein Jurist wie Fränkel in der Bundesrepublik Karriere machen konnte, war keine Ausnahme, sondern die Regel. Das ist jetzt auch durch eine Datenbank nachweisbar, die Wissenschaftler am Institut für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung der Freien Universität Berlin angelegt haben. Erstmals gebe es jetzt einen »umfassenden Bestand« an Daten über NS-Juristen, sagt Hubert Rottleuthner, Professor am Institut, der das Projekt »Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen im 20. Jahrhundert« betreut. Alle Richter und Staatsanwälte, die zwischen 1934 und 1960 tätig waren, sind namentlich und mit den wichtigsten beruflichen Merkmalen erfasst. Insgesamt 34000 Juristen des höheren Justizdienstes befinden sich in der Datenbank.

Die aufgenommenen Daten sind in der Regel schon lange öffentlich zugänglich. Personalverzeichnisse oder das Handbuch der Justiz ab 1958 wurden komplett erfasst. Hinzu kamen andere veröffentlichte Quellen, um auch Juristen zu erfassen, die im Dritten Reich wegen so genannter rassischer Zugehörigkeit oder politischer Unzuverlässigkeit entlassen wurden – rund 700 zwischen 1933 und 1938 – und deshalb nicht mehr in Personalverzeichnissen auftauchen. Schließlich wurden auch Dokumentationen über NS-Kontinuität in der Bundesrepublik eingearbeitet, die Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre in der DDR und der Tschechoslowakei erstellt wurden.

Durch die datenbankgestützte Auswertung von Justizkarrieren lässt sich zeigen, dass sich die meisten Justizjuristen nach 1933 mit dem neuen Regime »arrangiert, es unterstützt und sogar begrüßt« haben, so Rottleuthner. Die alten »Parteigenossen« seien im Dritten Reich aber nicht automatisch weitergekommen. Wichtig war neben der Parteimitgliedschaft auch ein gutes Examen. Manche machten allerdings auch keinen Karrieresprung, blieben etwa die gesamte Zeit Amtsgerichtsrat. Woran das lag, lasse sich mit den Mitteln der Datenbank aber nicht sagen, sagt Rottleuthner. Feststellbar seien lediglich Gruppen von Fällen, die dann im Einzelfall noch recherchiert werden müssten. »Wir lassen die Möglichkeit offen, solche Informationen dann auch in die Datenbank aufzunehmen.«

Gegen Ende des Dritten Reiches waren laut Datenbank 80 Prozent der Richter und Staatsanwälte in der NSDAP. Ihre Karrieren gingen nach 1945 relativ ungebrochen weiter, so dass 1954 insgesamt 74 Prozent der Justizjuristen bei den Amtsgerichten aus der NS-Zeit stammten. Bei den Landgerichten betrug der Anteil 68,3 Prozent, bei den Oberlandesgerichten 88,3 Prozent. »Wenn die 1945 am Landgericht waren, dann sind sie danach ans Oberlandesgericht gewechselt und waren Ende der 50er beim Bundesgerichtshof gelandet«, schildert Rottleuthner einen typischen Karriereverlauf. Beim Bundesgerichtshof waren 1954 noch 74,7 Prozent der Richter ehemalige NS-Juristen, bis in die 60er Jahre hinein blieb deren Anteil bei über 70 Prozent. Das habe sich erst geändert, als die alten Juristen ab den 60er Jahren nach und nach in Pension gingen, bemerkt Rottleuthner. Für ihn ein »erschreckender Befund«. »In den unteren Instanzen wuchsen die neuen Generationen nach, aber beim Bundesgerichtshof sammelten sich die alten.« Rottleuthner sieht darin auch den Grund für die »relativ verständnisvolle« Haltung des Bundesgerichtshofes gegenüber NS-Richtern bei Rechtsbeugesachen.

Ob die Datenbank öffentlich zugänglich gemacht werden kann, ist noch ungeklärt. Das ist vor allem eine Urheberrechtsfrage, die noch zu klären ist. Das Institut will aber auf jeden Fall Anfragen beantworten. Nicht untersucht haben die Wissenschaftler die Sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR. Das hat laut Rottleuthner einen einfachen Grund: »Es gab einfach viel zu wenig Fälle. In der SBZ war man doch ziemlich konsequent, was die Nicht-Einstellung von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern anging.«

Zu ähnlichen Urteilen sind auch andere Rechtswissenschaftler aus In- und Ausland gekommen, etwa der Niederländer Fritz Rüters, der sich verdient gemacht hat mit umfangreicher vergleichender Dokumentation zur Ahndung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik und der DDR. Er bescheinigt dem ostdeutschen Staat ebenfalls effektivere und ehrlichere juristische Abrechnung mit den Untaten des NS-Regimes sowie deren Trägern. Umso verwunderlicher war die dieser Tage von Sachsen-Anhalts Justizminister Curt Becker gemachte Äußerung: »Wir müssen mit dem Irrglauben aufräumen, in der DDR habe es eine konsequente und systematische Verfolgung von Naziverbrechen gegeben, während in der alten Bundesrepublik zu lasch vorgegangen worden sei.« Abgesehen von der offensichtlichen politischen Intention dieser Behauptung, erweist sich der CDU-Politiker damit als ein Mann von vorgestern. Die Forschung hat Fakten wider solche Legenden präsentiert – und sogar die Bundesjustiz derweil einstiges Fehlversagen eingestanden und in bemerkenswerten Wanderausstellungen und Publikationen dokumentiert.


Autor: Dirk Eckert