Süddeutsche Zeitung, 21.10.2002, S. 11
Geschichte / Archäologie Rezension Süddeutsche Zeitung (SZ)
MICHAEL PITTWALD: Ernst Niekisch. Völkischer Sozialismus, nationale Revolution, deutsches Endimperium, PapyRossa-Verlag, Köln 2002. 355 Seiten, 20,50 Euro.
Zeit seines Lebens zog es den Nationalrevolutionär Ernst Niekisch zur Arbeiterklasse und ihren politischen Organisationen. Begonnen hatte seine Karriere in der Münchner Räterepublik, sie führte über den rechten Hofgeismarkreis der Jungsozialisten bis in die DDR, wo Niekisch als SED- Mitglied 1967 gestorben ist. Nur einmal, im Widerstandskreis, einer elitären Vereinigung, die sich dem „nationalen Befreiungskampf“ verschrieben hatte und die Weimarer Republik bekämpfte, fand Niekisch eine politische Heimat jenseits der deutschen Arbeiterbewegung.
Der Politikwissenschaftler Michael Pittwald hat sich das Gedankengut des Ernst Niekisch in seiner Doktorarbeit, die jetzt im PapyRossa-Verlag als Buch erschienen ist, genauer angesehen. Anhand umfangreichen Quellenstudiums kann er nachweisen, was sich hinter Niekischs „proletarischem Nationalismus“, mit dem er auch nach 1945 noch bei der Linken reüssieren konnte, verbirgt: völkisches Gedankengut, durchsetzt mit frauenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Versatzstücken.
Gelöbnis gegen den Westen
Den Höhepunkt von Niekischs Schaffen sieht Pittwald in der Zeit ab 1926 beim Widerstandskreis. Dessen Ideologie bildet das Herzstück von Pittwalds Arbeit. Das Programm des Widerstandskreises, dessen Mitglieder sich „Reichskameraden“ nannten und die gegenüber Niekisch ein Gelöbnis ablegen mussten, lief auf einen „völkischen Imperialismus“ hinaus: ein deutsch geführtes Mitteleuropa und letztlich ein so genanntes „Endimperium“. Den „proletarischen Nationalismus“ charakterisiert Pittwald als „eine elitäre, dem Führerprinzip verhaftete Herrschaftsideologie“.
Niekisch hetzte gegen alles, was er für „westlich“ hielt. „Deutsches Herrenmenschentum kann nicht eher existieren, bevor nicht die romanische Welt niedergeworfen und gedemütigt ist“, schrieb Niekisch 1932. Vor den USA warnte er 1929: „Deutschlands Heil liegt nicht bei Girls, liegt nicht bei emanzipierten Frauen; für Deutschland ist der Feminismus mit all seinen pazifistischen, humanitären, ethisierenden und ökonomisierenden Masken die politische Pest.“
In so einem Cocktail kann auch Antisemitismus nicht fehlen: Niekisch wetterte 1935 gegen den „ewigen Jude(n), dessen universalistischer nihilistischer Radikalismus noch immer ungebrochen ist“. Pittwald hat noch Dutzende solcher Zitate aufzubieten, mit denen sich hinreichend belegen lässt, dass Niekisch ein durch und durch reaktionäres Programm vertrat.
Seiner Karriere bei der politischen Linken tat das keinen Abbruch. Die Arbeiterbewegung hatte „keine Bedenken gegen eine Zusammenarbeit mit ihm“, wie Pittwald lakonisch bemerkt. Den Grund dafür sieht er darin, dass nationales Gedankengut auch in der Arbeiterbewegung eine lange Tradition hatte.
Nur einmal, in den Zwanzigern, brachten Niekisch seine Ansichten ein Parteiausschlussverfahren bei der SPD ein. Das hinderte ihn allerdings nicht daran,1945 in die KPD einzutreten, um den „sozialistischen Nationalismus“ mit der Vereinigung von KPD und SPD zu verwirklichen. Die Grundsatzrede von Otto Grotewohl auf dem Vereinigungsparteitag im April 1946 stammt aus Niekischs Feder, der damit „wieder voll im politischen Geschäft“ war. Jetzt kam Niekisch seine 1932 veröffentliche Schrift „Hitler – ein deutsches Verhängnis“ zugute. Fälschlicherweise, wie Pittwald zeigen kann. Denn Niekisch kritisierte Hitler darin von rechts. Dieser war mit seiner katholisch-österreichischen Herkunft für Niekisch ein Repräsentant des Westens und außerdem nicht revolutionär genug, da er mit dem Stimmzettel an die Macht kommen wollte.
In der DDR bekleidete Ernst Niekisch zahlreiche Funktionen; dennoch entzog die deutsche Teilung ihm den Boden: „Zuletzt erkannte ich, dass man in Deutschland nur noch die Wahl habe, Amerikaner oder Russe zu sein. Wer mit Entschiedenheit eine eigene deutsche Position bewahren will, verfällt über kurz oder lang hoffnungsloser Vereinsamung.“ In einem unveröffentlichten Manuskript schlug er tatsächlich kurz vor seinem Tod vor, die DDR, das „ Bollwerk gegen den Westen“, in „Preußen“ umzubenennen.
Als Grenzgänger zwischen links und rechts blieb Niekisch auch nach seinem Tod wirkungsmächtig. Bei vielen Versuchen, die Linke mit der Nation zu versöhnen, stand er Pate. Der Historiker Sebastian Haffner forderte noch im November 1989 angesichts der sich abzeichnenden Wiedervereinigung, Niekisch wieder auf die Tagesordnung zu setzen: „So unwahrscheinlich es klingen mag: Der wahre Theoretiker der Weltrevolution, die heute im Gange ist, ist nicht Marx und nicht einmal Lenin. Es ist Niekisch.“
Der Rezensent ist Politikwissenschaftler und Journalist in Köln.
———–
Korrektur (25.10.2002): Ernst Niekisch ist 1963 aus der SED ausgetreten und 1967 in West-Berlin gestorben.
———–
Autor: DIRK ECKERT