Ungerechtigkeit, Hunger und Rebellion

Zur aktuellen Situation in Brasilien

philtrat, 30.04.1998, Zeitung der StudentInnenschaft der Philosophischen Fakultät der Universität Köln, nr. 22, S. 13

philtrat

Brasilien hat immer noch schwere soziale Probleme. Hunger und Dürre greifen um sich und bedrohen vor allem die Indígenas. Gleichzeitig erreichte die Bewegung der Landlosen im April einen vorläufigen Höhepunkt. Auch die AnalphabetInnenquote in Brasilien ist nach wie vor hoch.

Daß die Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadoros Rurais Sem Terra (MST) gerade am 17. April 1998 einen landesweiten Protesttag veranstaltete, war kein Zufall. Vor genau zwei Jahren hatten im Amazonasteilstaat Pará Militärpolizisten ein Blutbad unter Landlosen angerichtet. Verantwortlich war der dortige Gouverneur Almir Gabriel. Die Schuldigen des Massakers kamen ungeschoren davon. Die Todesschützen sind alle auf freiem Fuß und nicht einmal vom Dienst suspendiert.

Doch das ist nicht der einzige Fall dieser Art. Der brasilianische Bischof Orlando Dotti rechnet vor, daß seit 1990 rund tausend BauerngewerkschafterInnen, kirchliche MitarbeiterInnen und KleinbäuerInnen ermordet wurden. Verurteilt wurden gerade mal fünf TäterInnen.

Grund der Proteste ist die ungerechte Bodenverteilung in Brasilien. Zwanzig Prozent der BrasilianerInnen besitzen rund neunzig Prozent des Bodens. Die Folge ist, daß nach kirchlichen Angaben ungefähr 62 Prozent des Bodens brach liegen. Gleichzeitig suchen um die 4,8 Millionen LandarbeiterInnenfamilien ein Stückchen Boden zur Nutzung. Längst unumstritten ist, daß die ungerechte Landverteilung hauptverantwortlich ist für die massive Landflucht in Brasilien. Es wird geschätzt, daß seit 1970 dreißig Millionen LandbewohnerInnen in die Städte gezogen sind – in die Slums von Rio de Janero, Sao Paulo und Salvador de Bahia.

Die Landlosen haben sich inzwischen in der MST organisiert. Doch ihre Besetzung von brachliegendem Land – im Bundesstaat Sao Paulo nutzen inzwischen zweitausend Familien der MST 56000 Hektar Boden – stößt auf entschiedenen Widerstand der HaziendenbesitzerInnen. Die verfügen inzwischen über kleine Privatarmeen. Die brasilianische Regierung von Präsident Fernando Henrique Cordoso hat klargemacht, daß sie die Landbesetzungen nicht dulden und notfalls mit Gewalt unterbinden werde.

Das Konzept der MST sah nun vor, den Protest vom Land in die Städte zu tragen. In der Hauptstadt Brasilia veranstaltete sie einen Sternmarsch, um auf die Situation der Landlosen aufmerksam zu machen. Bei ihren Aktionen kann sie auch auf internationale Unterstützung zählen. In der Bundesrepublik wurden die Proteste von der Menschenrechtsorganisation Fian und von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) unterstützt.

Brasiliens Präsident Cordoso, ein ehemaliger Soziologe, Ehrendoktor der FU Berlin und in den 70er Jahren eher auf Seiten der Linken, ist mit seinen Versuchen einer Agrarreform gescheitert. Die größten Latifundien blieben ungeschoren. Doch die ungerechte Landverteilung ist nur eines der aktuellen Probleme. Im Bundesstaat Roraima an der Grenze zu Venezuela wüten seit Monaten schwere Waldbrände. Eine Fläche von schätzungsweise 36000 Quadratkilometern liegt in Asche. Die Brände wurden durch anhaltende Dürre verursacht, hervorgerufen durch die Abholzung des Regenwalds. Präsident Cordoso lehnte es lange die von der UNO angebotene Hilfe bei der Brandbekämpfung ab. Die Dürre wiederum führte in der Region zu Nahrungsmittelknappheit, Wassermangel und Krankheiten. Betroffen ist – neben den KleinbäuerInnen – vor allem die Indígenabevölkerung, deren Dörfer durch die Brände in ihrer Existenz bedroht sind.

Inzwischen werfen die Oppositionsparteien, die Landlosenbewegung und sogar Personen aus dem Justizwesen der brasilianischen Regierung Untätigkeit vor. Nach Agenturmeldungen sind Millionen von Menschen von einer Hungersnot bedroht. Einige Bischöfe haben öffentlich erklärt, daß es kein Verbrechen sei, zu stehlen, um essen zu können. Ein Gerichtsvorsitzender bezeichnete solche Diebstähle ebenfalls als gerechtfertigt und nannte sie eine legitime Notwehr.

Als einer der wichtigsten Gründe für die Armut großer Teile der brasilianischen Bevölkerung gilt die hohe AnalphabetInnenquote. Mit 14,7 Prozent 1996 liegt sie deutlich höher als in anderen südamerikanischen Ländern. Die 1988 erlassene Verfassung Brasiliens forderte, daß der Analphabetismus binnen zehn Jahren beseitigt werden müsse. Diese Frist ist nun zu Ende, die Vorgabe der Verfassung offensichtlich nicht erreicht, und der entsprechende Artikel ist längst entschärft. Mit neuen Programmen versucht die Regierung Cordoso jetzt einen neuen Anlauf bei der Beseitigung des Analphabetismus. Die soziale Lage Brasiliens dürfte vorerst gespannt bleiben.


Autor: Dirk Eckert